Annika Brockschmidt (@ardenthistorian) hat im letzten Jahr mit „Amerikas Gotteskrieger“ ein vielbeachtetes Buch über die Geschichte und die Strukturen der Religiösen Rechten in den USA geschrieben, das ich auch sehr empfehlen kann. In ihrem Podcast „Kreuz und Flagge“ spricht sie regelmäßig über fundamentalistische Gruppen und ihren Einfluss auf die politische Landschaft. Während es in deutschen Medien seit der Wahl Joe Bidens bemerkenswert ruhig um die USA geworden ist, brodelt es dort unter der Oberfläche. Manche Beobachter*innen betrachten die nächsten Wahlen bereits als entscheidend für den Fortbestand der amerikanischen Demokratie. Ich durfte mit Annika Brockschmidt über diese Prognosen, die Religiöse Rechte, ihre Zusammensetzung und ihre Ziele sprechen.
Nach der Wahl Joe Bidens ist es in deutschen Medien stiller um die politische Landschaft der USA geworden. Die Stille trügt, oder?
Ja, das ist leider richtig. Die Gefahr bei Bidens Sieg war, dass die meisten Beobachter nun die Gefahr für die amerikanische Demokratie als beseitigt sehen würden – das sehen wir auch dadurch, wie wenig nach wie vor über den Republikanischen Angriff auf die demokratischen Strukturen des Landes auf Bundesstaatsebene berichtet wird. Aber die Sicherheit, in der viele politische Kommentatoren sich wiegen, ist eine trügerische: Die Religiöse und Politische Rechte hat noch nie nach einer Niederlage den Schwnaz eingezogen und klein beigegeben. Wenn Plan A und B nicht funktionieren, probiert man es mit Plan C – und hat noch Plan D und E in der Hinterhand.
Wer ist „die Religiöse Rechte“, um welche Gruppen handelt es sich da?
Die Religiöse Rechte ist eine sehr heterogene Bewegung: Dazu zählen viele Weiße Evangelikale, von denen man ja auch ab und an in deutschen Medien lesen kann, aber auch rechtskonservative Katholiken, Pfingstkirchler, Lutheraner, orthodoxe Juden, Mormonen und solche, die gar keiner bestimmten Glaubensrichtung angehören. Es wäre eine fatale Fehleinschätzung, die Religiöse Rechte allein auf Weiße Evangelikale zu reduzieren, auch wenn diese Gruppe über besonders großen Einfluss verfügt. Man muss aber auch unterscheiden zwischen den „Fußsoldaten“, also den „rank and file“ Mitgliedern, und denjenigen, die die Köpfe der Bewegung sind. Die haben, anders als die „einfachen“ Mitglieder, oft auch eigene finanzielle Interessen, die neben ihren ideologischen Überzeugungen eine Rolle spielen. Die Religiöse Rechte verfügt in den USA über ein eng gestricktes Netzwerk aus miteinander verbundenen Organisationen, Think Tanks, Lobby-Organisationen und Medienimperien, die eine unfassbar wertvolle politische Infrastruktur bilden, die der Gegenseite fehlt.
Was sind zentrale Themen der Religiösen Rechten? Hat sich das in den letzten Jahrzehnten verändert?
Zentral sowohl für die Legitimation als auch die Zielsetzung der Bewegung ist der Mythos eines verloren gegangenen „Goldenen Zeitalters“, in dem das Land von Weißen Christen FÜR Weiße Christen gegründet wurde. Zu diesem (historisch nie so dagewesene) Zustand will die Bewegung „zurück“: Christen, und zwar rechtskonservative Christen, und nur die, sollen eine politische und kulturelle Vormachtstellung in der Gesellschaft einnehmen. Das Ganze wird dargestellt als ein Überlebenskampf um die Seele des „wahren“, also des Weißen, christlichen Amerikas. In dieser Weltsicht gibt es nur entweder oder, nur Gut oder Böse. Deswegen ist ein politischer Diskurs auch gar nicht gewollt: Die Gegenseite wird nicht einfach als politischer Gegner gesehen, mit dem man streitet, aber auch Kompromisse eingeht, sondern als zutiefst anti-amerikanische, extremistische Ideologie, die das „wahre“ Amerika zerstören will und im Bund ist mit den Mächten des Bösen.
Sie beschreiben in Ihrem Buch sehr spannend inhaltliche Überschneidungen zwischen der libertären und der christlich-fundamentalistischen Rechten. Wo liegen die?
In der Abneigung gegenüber dem Staatlichen, wenn es beispielsweise um Sozialprogramme geht – diese auf den ersten Blick seltsam anmutende Koalition entstand aus der gemeinsamen Ablehnung des New Deals, und wurde zementiert, als die Bürgerrechts- und Frauenbewegung das Bild der „nuklearen Kernfamilie“ bedrohten, die auch für rechte Libertäre das Fundament ihres Wirtschaftssystems darstellte. Und so schlossen sich social conservatives und libertarians zusammen – auch wenn sie in ihren politischen Ansichten in sozialen Fragen teils weit auseinander lagen. Was sie zusammenbrachte war das gemeinsame wirtschaftliche Interesse. Nicht umsonst bewerben rechte Fundamentalisten die Abschaffung von Umweltschutz-Regularien, sind für extrem niedrige oder gar keine Steuern und feiern Kapitalismus als Erfindung Gottes: Musik in den Ohren der Libertären.
Die Religiöse Rechte hat mittlerweile die Republikanische Partei fest im Griff. Wie ist ihr das gelungen?
Durch die geplante, stetige Übernahme der niederen Ränge der Partei, um dann durch gezielte Mobilisierung die Moderatoren und Führungspersonen aus den Vorständen und Boards rauszuwählen. Die Strategie hatte schon bei der NRA funktioniert, die ursprünglich mal eher eine Art moderater Sportschützenverein war, und bei der Southern Baptist Convention – heute die Speerspitze des Christlichen Nationalismus, während sie noch nach dem Supreme-Court-Urteil im Fall Roe v. Wade eine eher liberale Abtreibungspolitik vertrat. Heute undenkbar. In der Republikanischen Partei sorgte Ralph Reed spätestens in den 90er Jahren durch seine Christian Coalition dafür, dass die Basisränge von ihren Mitgliedern besetzt wurden – auch wenn die Zusammenarbeit natürlich schon lange vor der CC begann.
Manche sprechen schon davon, dass die nächsten Wahlen in den USA über die Demokratie entscheiden könnten. Würden Sie das auch so beurteilen?
Ich fürchte, das stimmt – eigentlich ist der Zeitpunkt schon viel früher, in den Midterms. Wenn die Republikaner dort die Mehrheit im Kongress gewinnen und Biden bis dahin keine Wahlreform und Gerichtsreform durchsetzen kann – und danach sieht es, solange der Filibuster nicht abgeschafft wird, nicht aus – sieht es sehr düster aus für die amerikanische Demokratie. Denn dann kann den Bemühungen der Republikaner auf Bundesstaatsebene, die Demokratie zu unterwandern, nichts mehr entgegengesetzt werden, weil die Republikaner bereits angekündigt haben, dann im Kongress alle Bemühungen der Biden-Regierung zu torpedieren. Der Werkzeugkasten der Republikaner in den Bundesstaaten setzt sich zusammen aus Voter Suppression Gesetzen (die vor allem BPoC, also Demokratische Wähler) betreffen, aggressives Neuziehen von Wahlbezirksgrenzen zum Vorteil der eigenen Partei, die Verbreitung der großen Lüge vom Wahlbetrug (um generelles Vertrauen in demokratische Wahlen zu untergraben, wenn doch zu viele der „falschen“ Wähler abstimmen, und zwar nicht für Republikaner) und zuletzt noch die Kriminalisierung von Protesten, sollte es zu denen kommen, wenn man versucht, sich gegen den Willen der Mehrheit der wählenden Bevölkerung zu stellen. Denn Teilnehmer von „riots“ – in Oklahoma zählt dazu jetzt eine Versammlung von mehr als drei Personen – können straffrei mit Autos umgefahren werden. Vor dem Hintergrund des Mordes an Heather Heyer in Charlottesville ist die Intention dieser Gesetze klar: Demonstranten einschüchtern und potentiell ihren Mord legalisieren.
Eine weitere Gefahr ist, dass die Republikaner mit dem, was sie parallel versuchen, Erfolg haben: Eigene Parteimitglieder in Wahlkommissionen der einzelnen Staaten, die sich 2020 gegen Trumps Staatsstreich gesträubt haben, durch willige Handlanger auszutauschen.
Dabei haben wir jetzt noch gar nicht über die Republikanischen Attacken auf das öffentliche Bildungswesen gesprochen: Republikaner sind gerade dabei, hunderte – ja, hunderte – Gesetzesvorschläge durch die State Legislatures zu drücken, die beispielsweise den Geschichtsunterricht massiv beschränken würden. Nichts, was den Weißen christlichen Gründungsmythos und eine geschönte Variante der amerikanischen Geschichte in Frage stellt, darf mehr unterrichtet werden – sonst drohen hohe Geldbußen und Berufsverbot für die Lehrer. Es wird außerdem versucht, die Erwähnung von LGBTQ Themen im Unterricht zu verbieten – alles, was Weiße, christliche Sensibilitäten verletzt letztlich. Wie Georgetown Professor Thomas Zimmer in der nächsten Episode meines Podcast „Kreuz und Flagge“ zu genau diesem Thema sagt: „Der Traum eines jeden autoritären Staates“. Und das fasst hervorragend zusammen, was wir hier sehen: Die Religiöse und Politische Rechte vertritt mittlerweile ganz offen, was schon zu Beginn des amerikanischen konservativen Projekts klar war: Wenn sie wählen müssen zwischen Demokratie und eigener Macht, muss die Demokratie weg. Das ist nicht allein Trump, diese Entwicklung geht viel länger zurück. Uff, Rant Ende.
Es ist in den USA unmöglich geworden, Wahlen ohne die Zustimmung und finanzielle Unterstützung bestimmter evangelikaler Gruppen zu gewinnen. Gibt es überhaupt eine Lösung für dieses Problem?
Das Problem liegt vor allem darin, dass diese rechtsreligiösen Gruppen Zugänge zu Mobilisierungsnetzwerken haben, und insgesamt zu einer politischen Infrastruktur, die die Gegenseite nicht hat. Außerdem hat der von rechten Aktivisten gekaperte Supreme Court erst jüngst wieder geurteilt, dass beispielsweise Non-Profit-Organisationen, die einen steuerfreien Status genießen und ihre Spenderlisten nicht offenlegen müssen, nicht zu letzterem gezwungen werden dürfen. Diese Organisationen der rechten Netzwerke dienen als Zwischenstationen von reichen Geldgebern, um ihre Unterstützung bestimmter politischer Vorhaben zu verschleiern – deswegen nennt man diese nicht nachverfolgbaren Geldströme auch „Dark Money“, Jane Mayer vom New Yorker hat dazu Hervorragendes geschrieben. Für letzteres Problem gibt es natürlich eine Lösung: Die Erweiterung des Supreme Courts, um das massive Ungleichgewicht, das derzeit herrscht, aufzulösen. Ein Supreme Court, der Dark Money aus politischem Eigeninteresse schützt, schadet aktiv der Demokratie – von anderen seiner Urteile mal ganz zu schweigen. Es ist tatsächlich so, auch was Wahlgesetzgebung und Gerrymandering angeht, was alle Gesetze angeht: Alle Wege führen zum Supreme Court. Und der ist derzeit in fester Hand der Religiösen Rechten. Kommt keine Reform vor den Midterms, wird das noch einige Jahrzehnte lang weiter der Fall sein.
Donald Trump wurde trotz seines gänzlich unchristlichen Auftretens und Lebensstils doch zur Erlöserfigur dieser christlich-fundamentalistischen Kreise. Wie kann das sein?
Man bindet ihn einfach in die biblische Erzählung mit ein und vergleicht ihn z. B. mit König David: Der habe ja auch den Mann der Frau, die er begehrte, ermorden lassen, um mit ihr schlafen zu können. Daraus schließ man: Auch schlechte Menschen können Werkzeuge Gottes sein. Egal, was eine Person getan hat: Wenn Gott einen Anführer erwählt hat, ist es egal, was er Schlimmes tut, man müsse ihm trotzdem folgen. Das ist eine extrem radikale Ansicht, denn damit lässt sich alles rechtfertigen – auch Gewalt. Zudem entspricht Trump dem Bild eines autoritären, aggressiven Anführers, nach dem die Religiöse Rechte sich sehnt.
Welche Rolle spielen Gruppierungen wie QAnon in dieser Gemengelage?
QAnon ist in Teilen der Religiösen Rechten verbreitet – auch weil diese Menschen schon aufgrund ihres Weltbilds vulnerabel sind für Verschwörungsmythen. Wer die Welt ohnehin schon in Schwarz und Weiß teilt, wem in der Kirche erzählt wird, eine Gruppe Demokratischer Eliten sei im Bund mit dem Teufel, der glaubt auch leicht, dass diese Gruppen in weltweiten Handel mit Kindern und andere fürchterliche Dinge verstrickt sind. Wer zudem überall einen geheimen Plan einer höheren Macht vermutet, ist ebenfalls anfälliger für Erzählungen wie die von „Q“, der hinter den Kulissen die Strippen zieht. Mittlerweile entwickelt sich QAnon weiter – teilweise wird der Begriff deutlich weniger verwendet – wohl auch wegen der schlechten Presse – aber das Narrativ ist immer noch dasselbe.
Die Religiöse Rechte in den USA hat sich, wie die Neue Rechte ganz allgemein, lange schon Widerstandspraktiken der Linken abgeschaut. Weshalb diese Protestformen?
Man sieht das zum Beispiel daran, wie die Religiöse Rechte die Sprache und die Methoden der Bürgerrechtsbewegung übernommen hat. Sitzproteste an Abtreibungskliniken, das Framing vom Kampf gegen Abtreibung als neuen Kampf für Bürgerrechte von Föten, dient natürlich dazu, die eigene Sache als moralisch überlegen darzustellen. Wenn ich den mentalen Bogen zu Bürgerrechten schlagen kann, ist das viel bessere PR, als wenn deutlich wird, was hier wirklich getan wird: Es werden Frauen belästigt und verfolgt, die basic health care bekommen wollen.
Wie wird das Problem der Religiösen Rechten und ihrer antidemokratischen Bestrebungen in den USA selbst thematisiert?
Es gibt zahlreiche Journalisten und Experten in den USA, die seit Jahren davor warnen. Die größten und radikalsten Kritiker sind selbst Amerikaner. Hat man sie in den Trump-Jahren oft noch als „hysterisch“ und „alarmistisch“ abgestempelt, ist das jetzt etwas anders. Seit dem 6. Januar 2021 haben sie etwas mehr Platz in den großen Medien des Landes eingeräumt bekommen – da hat sich wirklich deutlich etwas getan. Aber: Noch immer dominiert in amerikanischen Medien die Bemühung, „neutral beiden Seiten gegenüber“ zu sein, der Ruf nach „Überparteilichkeit“. Nur, wenn eine Seite die Demokratie abschaffen will und man ist dem gegenüber „neutral“, bezieht man eben trotzdem Stellung – und zwar nicht für die Demokratie. Deswegen: Ja, es hat sich etwas getan, aber bei weitem nicht genug.
Können wir in Deutschland bzw. in Europa Teile dieser Entwicklung auch als Blaupause dafür verstehen, wie die Neue Rechte hier strategisch auftritt und in Zukunft vorgehen wird? Ich denke da etwa an das hervorragende Netzwerk verschiedener Medien und Akteur*innen auf legislativer und exekutiver Ebene, aber auch an die Übernahme bestimmter Kulturkampf-Narrative (Frühsexualisierung, Wintermärkte etc.).
Ja, wir sollten uns allein schon aus Eigeninteresse dafür interessieren, was in den USA vor sich geht – weil die globale Rechte, auch die europäische mit Spannung nach Amerika schaut. Wir bemerken ja jetzt schon, dass diverse Themen des „Culture wars“ auch hierher schwappen. Das betrifft übrigens nicht nur den rechten Rand und Trolle auf Twitter, sondern auch die so viel beschriebene „bürgerliche Mitte“, sodass man dann sogar unsägliche Feuilleton-Stücke in großen Zeitungen lesen kann, die unkritisch Talking Points der amerikanischen Rechten reproduzieren. Die Unterhöhlung der amerikanischen Demokratie ist für Rechte ein Hoffnungsprojekt – denn wenn die größte Demokratie fallen sollte, welche ist dann noch sicher?
Vielen Dank für das Gespräch, Annika!
Autorinnenfoto: Lea Eggers
Annika Brockschmidt: Amerikas Gotteskrieger, Rowohlt Verlag, 416 Seiten, 16,00 Euro.
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Noch ein Buch zu diesem Thema: „Onward Christian Soldiers: The MAGA March Toward a Fascist America“ by Werner Lange, erschien im Juni 2021 in Amazon Kindle Direct Publishing.