Die besten 10 Sachbücher in 2022

2022 hat einen deutlichen Wandel in meinen Lesegewohnheiten verursacht. Statt Belletristik standen viel öfter Sachbücher auf dem Programm, es schien mir fast, als könnte ich mich in Romane plötzlich weniger versenken als zuvor. Über Jahre hinweg habe ich mir immer wieder vorgenommen, mehr Sachbücher zu lesen, zuletzt ist es, vielleicht auch bedingt durch den Zustand der Welt, ganz natürlich dazu gekommen. Je mehr Chaos und Komplexität, desto mehr Halt finde ich in Sachtexten, im Sammeln von Wissen. Es ist meine Art von Coping-Mechanismus, vermute ich. Vielleicht aber auch meine Art, vor all den unangenehmen Gefühlen, die Weltkonfrontation so mit sich bringt, auf eine Sachebene zu entfliehen. Sei es drum: Sachbücher haben mich in diesem Jahr 2022 enorm bereichert, deshalb anbei meine Highlights (Anmerkung: nicht alle Titel sind 2022 erschienen, aber Bücher werden bekanntlich nicht schlecht):

Philipp Kohlhöfer: Pandemien

Während die meisten nichts mehr von Pandemien hören können, hat die Corona-Pandemie in meiner Welt ein großes Interesse für medizinhistorische Betrachtungen geweckt. Wie sind Menschen zu früheren Zeiten mit Pandemien umgegangen? Haben wir daraus gelernt? Wie können wir uns vor Viren- und Krankheitserregern schützen? Und wie viel Anteil haben wir selbst an der Verbreitung zoonotischer Erreger mit Pandemiepotential? Philipp Kohlhöfers Buch ist eines der besten, das ich bislang zum Thema gelesen habe. Sein Stil ist so einnehmend und seine Beispiele so alltagsnah und einprägsam, dass man dieses Buch wirklich mit einem spürbaren Zugewinn an Wissen beendet.

Philipp Kohlhöfer: Pandemien. Fischer Verlag. 544 Seiten. 25,00 €.

Ronen Steinke: Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich

Man bekommt in Deutschland nicht automatisch in jedem Fall eine:n Pflichtverteidiger:in zur Seite gestellt. Unsere Gefängnisse sind voller Menschen, die ohne gültigen Fahrausweis erwischt worden sind. Vor Gericht spielt für die Beurteilung eines Falles viel zu oft eine Rolle, unter welchen Lebensumständen ein:e Angeklagte:r lebt und ob er:sie Geld hat. Wer in Armut lebt, eine Migrationsgeschichte hat oder suchtkrank ist, muss damit rechnen, härter beurteilt zu werden. Der durch Steuerhinterziehung entstehende wirtschaftliche Schaden steht in keinem Verhältnis zu Hartz-IV-Betrug, trotzdem ist das Straf,aß mitunter ähnlich. Diese und viele andere Ungerechtigkeiten unseres Rechtssystems hat Jurist Ronen Steinke zusammengetragen. Es war ein echter Augenöffner für mich, in dieser Deutlichkeit und konkret fallbezogen davon zu lesen, dass vor dem Gesetz eben nicht alle gleich behandelt werden. Das Buch stand auf der Longlist für den NDR-Sachbuchpreis 2022.

Ronen Steinke: Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich. Berlin Verlag. 272 Seiten. 20,00 €.

Hannah Gadsby: Zehn Schritte Richtung Nanette

Seit Hannah Gadsbys Bühnenprogramm Nanette bin ich großer Fan, in diesem Jahr durfte ich sie sogar mit ihrem neuen Programm Body Of Work live in Berlin sehen. Gadsby schildert in ihrer Autobiographie mit dem gewohnt trockenen, hintersinnigen Humor ihren Weg zu einem Programm, das sie mit einem Schlag weltberühmt machte. Es geht um ihr Aufwachsen in Tasmanien, den gesellschaftlich anerkannten und institutionell gestützten Hass auf Homosexuelle (Tasmanien entkriminalisierte Homosexualität erst Ende der 90er-Jahre), den internalisierten Selbsthass und die eigene Orientierungslosigkeit. Gadsby ist Autistin, wird aber erst spät diagnostiziert. In der Erzählung ihres Lebens wird ihre Art des Denkens und ihr Zugang zur Welt immer wieder thematisiert: zunächst als Hindernis, nach der Diagnose jedoch als Stärke. Gadsby wird nicht nur als Kind Opfer sexualisierter Gewalt, sondern auch als junge Erwachsene Opfer eines homofeindlichen Übergriffs. Es ist ihr gelungen, sich ihre Geschichte, die ihr von so vielen Menschen immer wieder gewaltsam entrissen wurde, zurückzuerobern. Das allein macht dieses Buch lesenswert!

Hannah Gadsby: Zehn Schritte Richtung Nanette. Aus dem Englischen von Ulrike Brauns. Rowohlt Verlag. 464 Seiten. 18,00 €.

Julia Cruschwitz, Carolin Haentjes: Femizide

Fast jeden dritten Tag stirbt in Deutschland eine Frau durch die Hand ihres Partners oder Ex-Partners. In aller Regel steckt dahinter ein patriarchal geprägtes Macht- und Besitzdenken, das die Frau als Eigentum des Mannes definiert. Trennt sich die Frau oder wird sie zu unabhängig, reift in vielen Männern der Entschluss, die Kontrolle zurückzuerobern, indem sie der Frau das Leben nehmen. Wenn sie sie nicht haben können, soll niemand sie haben. Für Straftaten mit dieser Motivlage hat sich in der Rechts- und Sozialwissenschaft zunehmend der Begriff des Femizids etabliert: der Mord an einer Frau vor dem Hintergrund männlichen Besitzstrebens. Julia Cruschwitz und Carolin Haentjes beleuchten das Phänomen eingehend, sie sprechen mit Überlebenden, mit Jurist:innen, mit Helfer:innen in gnadenlos unterfinanzierten, kaputtgesparten Frauenhäusern. Sie analysieren die gesellschaftlichen, aber auch rechtlichen Strukturen, die die Gewalt an Frauen fördern und letztlich dafür sorgen, dass die Hilfe oft zu spät kommt.

Julia Cruschwitz, Carolin Haentjes: Femizide. Hirzel Verlag. 216 Seiten. 18,00 €

Samira El Ouassil, Friedemann Kahrig: Erzählende Affen

Wir Menschen haben ein „narratives Gehirn“ (Fritz Breithaupt). Wir erschließen uns die Welt vor allem über Geschichten. Geschichten von uns selbst, Geschichten über andere, Geschichten über die Gesellschaft, in der wir leben, Geschichten über das Gute und Böse, über Schuld und Privilegien, über das Fremde und das Eigene. Manche dieser Geschichten sind so archetypisch und tief in uns verwurzelt, dass sie zu Narrativen werden. Zu Erzählschablonen, die wir, mitunter auch unbewusst, immer wieder anwenden, um uns und anderen zu erklären, was in der Welt passiert. Samira El Ouassil und Friedemann Karig wagen in Erzählende Affen gewissermßen eine Kartographie dieser Narrative, allen voran die Heldenreise. Wer glaubt, dass Geschichten nur in der Literatur eine Rolle spielen, wird sie nach diesem Buch wahrscheinlich mit anderen Augen sehen. Geschichten sind überall: in der Politik, in medialer Berichterstattung, in der Werbung, in sozialen Medien. Wir alle bewegen uns permanent in einem Geflecht aus Geschichten. Aber so sehr wir das Erzählen im Blut haben, manche Dinge erzählen sich schlecht: die Klimakrise etwa. Weshalb das problematisch ist und wie man diese gewaltige Aufgabe vielleicht doch in das Gewand einer Geschichte stecken könnte – das und viel mehr noch steht in diesem wunderbaren Buch!

Samira El Ouassil, Friedemann Karig: Erzählende Affen. Ullstein Verlag. 528 Seiten. 25,00 €.

Marlen Hobrack: Klassenbeste

In den letzten Jahren wird der Klasse, insbesondere literarisch, wieder deutlich mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Für den eigenen Lebens- und Bildungsweg spielt die Herkunft noch immer eine große Rolle: das beginnt bei etwaigen Gymnasialempfehlungen und endet in einem Elternhaus, das finanziell oder biographisch bedingt nicht in der Lage ist, dem Kind die optimale Förderung zukommen zu lassen. Wenn in linken Diskursen vom „Arbeiter“ die Rede ist, werden (ostdeutsche) Arbeiterinnen selten mitgedacht. Marlen Hobracks Klassenbeste schließt diese Lücke, indem sie nicht nur von ihrer eigenen Bildungsbiographie, sondern vor allem von der ihrer Mutter erzählt. In der DDR sozialisiert, arbeitete sie bereits in jungen Jahren, um die Familie finanziell zu unterstützen. Mal am Fließband, mal in der Metzgerei, es waren immer körperlich stark beanspruchende Berufe, die ihre Spuren bei Hobracks Mutter hinterlassen haben. Obwohl die Linke auch für Menschen wie Marlens Mutter Besserungen erstreiten sollte, werden Lebensbedingungen wie die ihre selten auf Augenhöhe adressiert, manchen gegenwärtigen Diskursen etwa kann Hobracks Mutter aufgrund mangelnder Englischkenntnisse nicht mehr folgen. Klassenbeste erzählt auf sehr prägnante, kluge, pointierte Weise von Prägung, von der Unsichtbarmachung mancher Lebens- und Arbeitsbiographien, von Möglichkeiten, bestimmte Menschen mehr mitzunehmen in der Diskussion um Verteilungsgerechtigkeit, Armut und Gleichberechtigung.

Marlen Hobrack: Klassenbeste. Hanser Verlag. 224 Seiten. 22,00 €.

Anita Blasberg: Der Verlust

Immer wieder ist in den letzten Jahren vom „Vertrauensverlust“ die Rede. Mehr und mehr Menschen misstrauen der Politik, misstrauen den Medien, zweifeln an der Demokratie und rütteln am extremistischen Rand auch an ihren Grundfesten. Nun ist es leicht, diesen Vertrauensverlust per se als ungerechtfertigt abzutun. ZEIT-Journalistin Anita Blasberg hat an ihrer Mutter schon länger eine Art politischen Fatalismus beobachtet. Diese Beobachtung nimmt sie zum Anlass, in den Dialog zu gehen und zu fragen: Wann hat das eigentlich angefangen? Der Verlust stellt ganz konkrete Ereignisse in den Fokus, die bei vielen Menschen zu einer Erosion des Vertrauens in politische Prozesse geführt haben: etwa das Handeln der Treuhand nach der Wiedervereinigung, Hartz IV, die Finanzkrise, Stuttgart 21, die Austeritätspolitik, die Klimakrise, Nordstream 2, den NSU. Stück für Stück entfaltet Blasberg ein Panorama politischer Entscheidungen der letzten dreißig Jahre, spricht mit Protagonist:innen, legt Ideen und Ideologien bloß, die sich als schädlich für den gesellschaftlichen Zusammenhalt erwiesen haben. Die große Stärke dieses Buches ist seine Klarheit, sein konkreter Sachbezug. Hier geht es nicht um diffuses Unwohlsein angesichts einer herbeifantasierten Weltverschwörung, sondern um kritikwürdiges politisches Missmanagement und historische Fehlentscheidungen, die noch im Heute politische Auswirkungen haben. Eines meiner ganz großen Highlights! Man müsste viel mehr über dieses Buch sprechen.

Anita Blasberg: Der Verlust. Rowohlt Verlag. 400 Seiten. 23,00 €.

Katharina Nocun, Pia Lamberty: Gefährlicher Glaube

Die Esoterikszene versteht sich gern als unpolitisch. Spätestens mit den sogenannten Hygienedemos im Rahmen der Corona-Pandemie aber hat sich gezeigt, dass Teile der esoterischen Szene mühelos nach rechts anschlussfähig sind. Und das ist kein Zufall. Esoterik und Verschwörungsglauben teilen einige strukturelle Ähnlichkeiten, etwa den Glauben an eine verborgene und verheimlichte Wahrheit, die nur Auserwählte kennen. Freilich sind nicht alle Esoterikgläubigen rechtsextrem, Katharina Nocun und Pia Lamberty zeigen aber eindrücklich und mit bestechend klarer Recherche, wo der Esoterikglauben Einfallstore für menschenfeindliche und antidemokratische Haltungen bietet. Leicht ist man vom Karmaglauben abgedriftet in die Idee, dass Menschen, die schwer erkranken, in ihrem früheren Leben etwas Schlechtes getan haben müssen und deshalb eine Mitschuld an ihrem Schicksal tragen. Schlechtes Karma eben. Wer erkrankt, hat sich nicht genug um gutes Karma gekümmert. Und wenn Krankheiten vor allem Ausdruck innerseelischer Konflikte sind, können sie auch nicht mit medizinischer Intervention besiegt werden (siehe Ryke Geerd Hamer und seine „Neue Germanische Medizin“). Nocun und Lamberty wissen, wovon sie reden. Sie beschäftigen sich seit Jahren mit der verschwörungsideologischen Szene, die nicht unwesentliche Überschneidungspunkte mit der Esoterikbubble hat (von der Anthroposophie von gar nicht angefangen). Sehr lesenswert und hervorragend geschrieben!

Katharina Nocun, Pia Lamberty: Gefährlicher Glaube. Bastei Lübbe Verlag. 303 Seiten. 22,00 €.

Guy Leschziner: Nachtaktiv

Guy Leschziner ist Neurologe und leitet eines der größten Schlaflabore Europas. In seinen Fallgeschichten erzählt er von diversen Schlafstörungen, von Narkolepsie bis Kleine-Levy-Syndrom. Was passiert im Gehirn, wenn wir träumen? Was sind Non-REM-Parasomnien? Gibt es nur „schlafend“ und „wach“ oder noch diverse Bewusstseinszustände dazwischen? Leschziner schreibt verständlich und spannend von der Welt des Schlafs und berichtet mit viel Empathie von seinen Patient:innen, deren jeweilige Leiden nicht immer leicht zu durchschauen waren. Weil er immer an konkreten Beispielen erläutert, was im Gehirn natürlich deutlich komplexer abläuft, bleibt man auch als Laie dabei und beobachtet fasziniert das Puzzlespiel, das eine Diagnose manchmal sein kann. Wer sich für Neurologie und insbesondere Schlafforschung interessiert, wird aus Leschziners Buch sicher viel mitnehmen können.

Guy Leschziner: Nachtaktiv. Aus dem Englischen von Wolfgang Seidel. Beltz Verlag. 327 Seiten. 22,95 €.


Grit Lemke: Kinder von Hoy

Grit Lemke wächst in den 60er-Jahren in der DDR-Musterstadt Hoyerswerda auf, die mit der Errichtung zahlloser neuer Wohnkomplexe in sehr kurzer Zeit ein enormes Bevölkerungswachstum verzeichnet. Es ist ein behütetes Aufwachsen in den großen Wohnsiedlungen. Jede:r passt ein bisschen auf jede:n auf, man hat sich im ewigen Provisorium DDR trotz allem ganz gut eingerichtet: immerhin gibt es in Hoyerswerda genug Wohnungen und genug Arbeit. Heute wird Hoyerswerda vor allem mit den rechtsextremen Pogromen der frühen 90er-Jahre verbunden, insofern ist es eine bereichernde Perspektive, von Menschen zu erfahren, die mit Hoyerswerda nicht nur gewaltsame Ausschreitungen verbinden. Kinder von Hoy ist auch eine Oral History der DDR und der Zeit des Mauerfalls. Unterschiedliche Protagonist:innen kommen zu Wort, es entsteht ein vielstimmiges, dreidimensionales Bild von Hoyerswerda, dem bereits zu DDR-Zeiten vorhandenen Rassismus, der Eruption der Wiedervereinigung und auch dem Versagen von Polizei und Behörden, die zu schützen, die den Schutz dringend gebraucht hätten. Hier habe ich einen ausführlicheren Beitrag zum Buch geschrieben.

Grit Lemke: Kinder von Hoy. suhrkamp nova. 255 Seiten. 16,00 €.

Weiterlesen

5 Kommentare

  1. Natürlich habe ich nicht jedes Buch auf dieser Liste gelesen (genau genommen noch gar keines – nur das Buch von Ronen Steinke liegt schon auf meinem Noch-zu-lesen-Stapel), aber dennoch lesen sich die Beschreibungen der einzelnen Titel so, als gehörten besagte Titel tatsächlich auf eine solche Liste. Vielen Dank für die Zusammenstellung! „Gefährlicher Glaube“ werde ich mir noch gönnen, dazu vielleicht noch das über Pandemien und „Kinder von Hoy“. Viele Grüße aus Nürnberg, Martin

    1. Vielen Dank! Freut mich, wenn ich das Interesse für einige Bücher wecken konnte.

  2. Liebe Sophie, tolle Liste, Gadsby wird wohl ein Geschenk werden, das ist ein Super Tipp zur richtigen Zeit. Der gefährliche Glaube liegt hier schon, den habe ich „gewichtelt“ bekommen, ich bin sehr gespannt. Blasberg und die Kinder von Hoy hatte ich mir auch schon mal notiert. Ich mache es auch häufig so, dass wenn mich etwas anfasst, ich mich tiefer in die Höhle begebe, um alles über die Fakten besser einordnen zu können. LG und einen schönen dritten Advent, Bri ❄

    1. Vielen Dank für deinen Kommentar, den wünsche ich dir auch!

  3. […] COMICS OF 2022 und alles sieht auf andere Weise spannend aus. Sophie listet uns derweil ihre besten 10 Sachbücher in 2022 und stellt die These auf, dass Sachbücher faktenbasiert sind und in einem Jahr, in dem man was zum […]

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert