Levi Israel Ufferfilge: Nicht ohne meine Kippa!

Erstaunlich viele halten Antisemitismus entweder für ein Problem der Vergangenheit oder für reine Importware, die mit den im geläuterten Deutschland Aufgewachsenen nichts mehr zu tun hat. Das ist Teil des Problems. Levi Israel Ufferfilge, geboren 1988 in Minden, erlebt antisemitische Anfeindungen beinahe täglich in unterschiedlichster Ausprägung und berichtet in Nicht ohne meine Kippa von diesen alltäglichen Gewalterfahrungen. In Diskussionsrunden versuchen häufig Menschen, die selbst nicht von Antisemitismus betroffen sind, zu definieren, was als Antisemitismus zu verstehen ist – und was nicht. Und nicht nur das: Sie versuchen es Menschen mit Antisemitismuserfahrungen zu erklären, auf dass die doch vielleicht weniger empfindlich sein mögen. Ufferfilge hat Polizist*innen erlebt, die zur Debatte stellen, ob „Scheißjude“ wohl tatsächlich eine Beleidigung antisemitischen Ursprungs ist und die ihm raten, doch einfach nicht mehr so offen jüdisch aufzutreten. Als wäre das das Problem.

Auslöser für den Hass vieler Menschen ist Ufferfilges Kippa, die ihn eindeutig als jüdisch identifiziert. Trüge er sie nicht, bliebe er wahrscheinlich größtenteils unbehelligt. Nun ist es aber immer besonders einfach, den schwarzen Peter denen zuzuschieben, die unberechtigt Hass und Gewalt auf sich ziehen, statt entschieden gegen jene vorzugehen, von denen der Hass ausgeht. Ufferfilge entscheidet sich bewusst dagegen, dieses Spiel mitzuspielen. Nicht nur, weil die Kippa einen großen Teil seiner Identität und Kultur symbolisiert, sondern auch, weil er andere Juden und Jüdinnen ermutigen, weil er Dialog ermöglichen will. Viele Jahre hält er Vorträge in Schulen und Kultureinrichtungen, vor interessierten Laien, vor Menschen, die mehr über ihre Kultur und Religion erfahren wollen, vor solchen, die bisher nie Kontakt mit Juden und Jüdinnen hatten. Er ist überzeugt, dass es schwerer ist, einen Menschen zu hassen, mit dem man gesprochen hat und den man kennt.

Die Umgebung, in der man beleidigt wird, lenkt mich zum Teil derart ab, dass ich der Situation mit Humor begegnen kann. Einmal stieg ich in eine Düsseldorfer S-Bahn ein, die alt und notorisch uneinladend schmuddelig aussieht, und werde direkt freundlich mit einem „Jetzt verseucht der dreckige scheiß Jude die ganze Bahn“ begrüßt. Ich grüße ähnlich höflich zurück und denke nur kopfschüttelnd: Schon ein starkes Stück … dafür, dass wir in der heruntergekommenen S8 sind!

Voraussetzung dafür ist, den Anderen auch als Mensch mit Persönlichkeit und individuellem Charakter anzuerkennen. Oft genug erfährt Levi Ufferfilge, dass er als Person gänzlich hinter dem verschwindet, was sich Menschen unter „den Juden“ vorstellen und plötzlich Rechenschaft ablegen soll für Umstände und politische Entscheidungen, an denen er gänzlich unbeteiligt ist. Insbesondere, wenn in der Öffentlichkeit bestimmte Themen besonders präsent sind, spürt er eine Zunahme der Angriffe: So geschehen bei jedem erneuten Hochkochen des Nahostkonflikts oder der breit medial rezipierten „Beschneidungsdebatte“im Jahr 2012. Während die Taten und Lebensentwürfe Deutscher nie stellvertretend für alle Deutschen bewertet und beurteilt werden, müssen Juden und Jüdinnen wie auch Geflüchtete oder Muslime unentwegt Rechenschaft ablegen. Levi Ufferfilge wird in der Öffentlichkeit mit übergriffigen, respektlosen Fragen konfrontiert, die man normalerweise keinem Fremden stellen würde. Aber als öffentlich sichtbarer Mensch jüdischen Glaubens verliert man sein Recht, sich auch im öffentlichen Raum unbehelligt zu bewegen. Man muss Rede und Antwort stehen. Oder ist exotisches Wesen für die Wohlmeinenden.

Und was war mit der Frau, die hinter mir am Getränkeautomat im Düsseldorfer Bahnhof, als ich nur einen Moment zu lang nach den richtigen Münzen in meinem Portemonnaie gesucht hatte, wütend grummelte: „Die Juden glauben wohl, die können sich wieder was erlauben!“?

Neben der verbalen und physischen Gewalt erlebt Levi Ufferfilge auch die absurde Exotisierung seiner Person. So folgt ihm etwa ein Ehepaar über längere Zeit und sind ganz fasziniert davon, einen Juden quasi in freier Wildbahn bewundern zu dürfen. Sie fragen sogar nach einem Foto. An anderer Stelle wird er auf dem Bahnsteig von Teilnehmer*innen einer Wandergruppe angesprochen, wie froh und glücklich sie seien, dass er da so auf dem Bahnsteig stünde. Zunächst fragen sie ihn, ob er Deutsch spreche. Das mag auf den ersten Blick harmlos und bestenfalls unbedarft erscheinen, ist aber genauso deprimierend und herabwürdigend. Juden und Jüdinnen sind ein selbstverständlicher Teil unserer Gesellschaft, keine bedrohte Tierart, die man neugierig von außerhalb betrachten kann. Verhalten wie dieses ist lupenreines Othering, also das Ausgrenzen von Menschen, indem man sie zur Gruppe der Fremden und Anderen in Abgrenzung zur eigenen Gruppe sortiert. Wir und die. Wir hier, die exotischen Juden und Jüdinnen dort. Zumal die meisten Deutschen wenig Ahnung von der Diversität jüdischer Gemeinden und allgemein jüdischen Lebens in Deutschland wissen. Wie schon Max Czollek in Gegenwartsbewältigung beschrieb, existieren Juden und Jüdinnen für viele Deutsche vor allem als Opfer der Shoah. Darüber hinaus gibt es wenig Wissen und wenig Interesse. Folgerichtig nehmen sie auch an, dass es nur wenige Juden in Deutschland gibt. Für 2020 weist der Zentralrat der Juden 93.695 Juden und Jüdinnen in Deutschland aus, 2005 lag die Zahl noch bei 108.289 (Quelle: destatista). Der Mediendienst Integration geht von 225.000 Personen aus, die „in der weitesten Definition als Jüdinnen und Juden gelten“ (Quelle: Mediendienst Integration). Ob das so bleibt, ist fraglich. Das politische Klima und das Erstarken antisemitischer Verschwörungsmythen lässt viele Juden und Jüdinnen mindestens darüber nachdenken, Deutschland zu verlassen. In Frankreich ist diese Abwanderung bereits seit Jahren zu beobachten („Es gibt ein Morgen. Wenn nicht hier, dann woanders„).

Levi Ufferfilge, der Jüdische Studien und Jiddistik studierte und nach seiner Promotion u. a. als Lehrer und Schulleiter an einer jüdischen Schule arbeitet, will bleiben. Aller Gewalt zum Trotz. Er hat für sich Mittel und Wege gefunden, mit ihr umzugehen. Humor, das Schreiben, die öffentliche Dokumentation dessen, was ihm passiert. Es ist nicht an ihm, klein beizugeben, er will sich nicht vertreiben lassen von einem Ort, der seine Heimat ist. Nicht ohne meine Kippa aber erzählt nicht nur von seinen Gewalterfahrungen, sondern auch von der innigen Beziehung zu seinen Großeltern, von jüdischem Leben in Deutschland, von jüdischen Gemeinden und der Notwendigkeit, einige von ihnen zu reformieren. Zu oft wird Rückwärtsgewandtheit noch immer mit Tradition verwechselt, etwa wenn queere Jüdinnen und Juden oder Menschen mit nur einem jüdischen Elternteil ausgeschlossen werden. Reformbedarf herrscht bei allen Glaubensgemeinschaften, seien sie christlich, jüdisch oder muslimisch. Levi Ufferfilges Buch ist erschütternd und beschämend, gleichzeitig aber auch ein Angebot zum Dialog an die, die bereit sind, zuzuhören und zu lernen. Bereits seit einigen Jahren sammelt Levi Ufferfilge unter dem Hashtag #jüdischinschland auf Twitter seine Erfahrungen. Die, die glauben, Antisemitismus sei doch kein Problem mehr, sollten genau hinhören und, wo es ihnen möglich ist, engagiert gegen Antisemit*innen aller Couleur vorgehen.

Levi Israel Ufferfilge: Nicht ohne meine Kippa!, Klett-Cotta Verlag, 208 Seiten, 17,00 €.

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2 Kommentare

  1. […] Levi Israel Ufferfilge: Nicht ohne meine Kippa! Sophie Weigand schreibt auf Literature Matters über Levi Israel Ufferfilges Buch und die darin geteilten erschütternden Realitäten wie jüdischen Menschen begegnet wird. […]

  2. Danke für Ihre Buchbesprechung. Habe dem Autor eben im Nachtcafé-Podcast zugehört und war begeistert von seiner sympathischen, überzeugenden und mutigen Darlegung – angesichts eines nur behäbig-bemühten Interviewers und mimisch nichts als bräsige Indifferenz präsentierender Umsitzer:innen.
    https://www.youtube.com/watch?v=aju7cUhtrwQ&t=27s
    Meine fast 80 Jahre zurückreichende Chronik der deutschen Hass-Tradition bis heute bezeugt ein so furchterregendes chris-lamistisches Potential, dass dem Autor jeder Respekt und Dank gebührt dafür, dass er nicht ‚klein beigibt‘. Möge immer jemand zur Stelle sein, die oder der dem Kippaträger ‚beispringt‘ und ihn womöglich beschützt. / B. L.
    https://docs.google.com/document/d/1O15JOH9YcMQ4l-QuRwtvx2UliZZQqSmOighzcLT1aBE/edit

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