Wenn in der öffentlichen Debatte von Antisemitismus gesprochen wird, dann in der Regel mit deutlichem Bezug auf das rechtsextremistische Lager. Dort wird Antisemitismus naturgemäß verortet, auch wenn er sich genauso in progressiven linken Kreisen findet. David Baddiel, britischer Autor und Komiker, untersucht in seiner Polemik „Und die Juden?“ die Diskrepanz zwischen den Reaktionen linker Progressiver auf Rassismus- und Marginalisierungserfahrungen etwa der PoC-Community und den Reaktionen auf antisemitische Schmähungen und Narrative.
Baddiel blickt in seinem Buch insbesondere auf Großbritannien und auch der Buchtitel wurde seitens des Hanser-Verlages für den deutschen Markt angepasst. Das englische Jews Don’t Count empfand man aus historisch nachvollziehbaren Gründen zu anstößig und hat es durch ein fragendes Und die Juden? ersetzt, in das man, wenn man wollte, ebenjenen Whataboutism-Tonfall hineinlesen kann, den Baddiel im Buch immer wieder kritisch hinterfragt. Und was ist eigentlich mit diesem und jenem? Wie kannst du dich zu x äußern, wenn du zu y schweigst? Man kennt es. Sei’s drum, die verlegerische Entscheidung ist richtig. Es ist aber sicher festzuhalten, dass sich manches in Deutschland anders verhält und einige der im Buch beschriebenen Debatten anders geführt würden; nichstdestotrotz ist natürlich auch Teilen der deutschen Linken der Antisemitismus in den eigenen Reihen kein Fremdwort.
Die zeitgenössischen kulturellen Debatten über die Neubeurteilung großer Autorinnen und Autoren der Vergangenheit im Licht des gegenwärtigen politischen Verständnisses verlaufen jedoch nicht immer negativ. Es trifft gewiss zu, dass Autorinnen mit wenigen namhaften Ausnahmen kulturell nicht in gebührender Weise berücksichtigt wurden, weshalb mich die Neubewertung Edith Whartons dazu brachte, mir Das Haus der Freude zu besorgen. Ich erfreute mich so lange an den Abenteuern der Heldin Lily Bart, bis nach einigen Seiten eine Figur namens Mr. Rosedale – »dieser kleine Jude«, der »ja wohl, soweit sie sich erinnern konnte, bereits ein dutzend Mal der Gesellschaft serviert und von ihr zurückgewiesen worden war« – eingeführt wird. Das Problem ist natürlich nicht, dass Wharton in ihrer Zeit und ihrem Kontext Dinge schrieb, die wir heute als antisemitisch betrachten würden. Das Problem ist, dass dieser Umstand für ihre gegenwärtige Wiederentdeckung aus feministischer Perspektive keinerlei Schwierigkeit darstellt.
Baddiels Auseinandersetzung fußt auf der Annahme, dass es in progressiven linken Kreisen verschiedene Wertungen von Diskriminierungserfahrungen gäbe und dem Antisemitismus dabei, im Gegensatz zum Rassismus gegen PoC oder Menschen mit Behinderungen, ein geringerer Wert beigemessen wird. Aussagen und Entscheidungen, die in anderen Diskriminierungskontexten verächtlich gemacht und abgestraft würden, werden, wenn sie antisemitische Spins enthalten, deutlich häufiger durchgewunken. Baddiel nennt etwa das Beispiel einer Besprechung von Charlie Kaufmans Ameisig, in der vor allem die heteronormative, weiße und männliche Perspektive dem Roman negativ ausgelegt wird, ohne auch nur einmal das Jüdischsein der Hauptfigur zu erwähnen: „But when you demand readers spend that much time with someone, you are still, to use a phrase Antkind would sneer at, privileging that white-male-cis-het perspective above all others.“ (hier) Ob Juden und Jüdinnen in Filmen etwa von jüdischen Schauspieler*innen verkörpert würden, stand nie zur Debatte, obwohl man dafür ähnliche Begründungen anführen könnte, wie für die gängigen Forderungen nach Darstellungen etwa behinderter Charaktere durch behinderte Schauspieler*innen. Als Baddiel im Fußballstadion jemanden hinter sich „Scheiß auf die Scheißjuden“ brüllen hört, nimmt das niemand so wichtig wie etwa das N-Wort, das gewöhnlich mit harten Sanktionen seitens der Stadionordner geahndet wird (in Großbritannien, wohlgemerkt).
Baddiel entwickelt innerhalb des Buches verschiedene Thesen, weshalb der Antisemitismus gewissermaßen ein „Rassismus zweiter Klasse“ ist, immer darauf Wert legend, dass es nirgendwo darum gehen sollte, gesellschaftliche Ächtung in verschiedene Härtegrade einzuteilen. In Bezug auf Antisemitismus gibt es eine gewisse Ambivalenz der Zuschreibungen, die ihren Teil dazu beiträgt, Marginalisierung zu verschleiern: Juden und Jüdinnen können ihr Jüdischsein, im Gegensatz etwa zu PoC oder Menschen mit Behinderungen, bewusst verbergen. Dieser Umstand wird nicht nur genutzt, um antisemitische Anfeindungen als weniger schlimm zu labeln, er steht auch in merkwürdiger Diskrepanz etwa zu antisemitischen Karikaturen, die sehr genau herausstellen, wie ein Jude auszusehen habe. Juden und Jüdinnen sind unsichtbar und übermäßig sichtbar zugleich. Sie gelten in antisemitischen Erzählungen gleichermaßen als minderwertig und als übermäßig mächtig.
In der progressiv linken PoC-Community werden Juden und Jüdinnen als Teil der weißen Mehrheitsgesellschaft gelesen, die extreme Rechte hingegen schließt sie explizit aus ihren Vorstellungen von weißer Vorherrschaft und der Bedrohung der „arischen Rasse“ aus. Vielmehr noch: Juden und Jüdinnen ziehen schließlich, gemäß des gängigen Verschwörungsnarrativs, im Hintergrund die Fäden, um „die Weißen“ zu unterjochen und am Ende die weiße Gesellschaft durch Einwanderer*innen, queere und behinderte Menschen zu ersetzen. Sie können nicht weiß – im Sinne des kulturellen Konstrukts – sein, wenn sie gleichzeitig an der Zerstörung der weißen Mehrheitsgesellschaft arbeiten. Sie sind weiß und nicht-weiß, je nach ideologischer Perspektive. Juden und Jüdinnen sind Teil des Establishments, Teil des Problems, nicht Teil der Lösung, so die implizite Annahme, auf der linker Antisemitismus fußt. Er wird nicht nur ersichtlich darin, was passiert, sondern darin, was nicht passiert, wenn antisemitische Entgleisungen passieren.
Darüber hinaus neigen Teile der Linke dazu, mittels antisemitischer Codes und Memes Kapitalismuskritik zu betreiben und nichts daran zu finden, das antisemitische Klischee der Rothschild-Elite zu perpetuieren. Die Juden und Jüdinnen sind in dieser Geschichte nur noch Stellvertreter*innen einer mächtigen Wirtschaftselite, die Verantwortung für das durch den Kapitalismus verursachte Leid trägt. „Die Juden“ sind der Kapitalismus, wie sie für Teile der Linken Israel sind. Untrennbar miteinander verwoben und allein deshalb Zielscheibe übler Unterstellungen und Gewaltphantasien unter dem Deckmantel der legitimen Herrschaftskritik; mal mehr und mal weniger verbrämt. (Kleiner Funfact am Rande: Als ich nach möglichen Beitragsbildern suche, weil mir Baddiels Buch nur in digitaler Form vorliegt und sich das ja immer so schlecht fotografiert, werden mir unter dem Suchbegriff „jewish“ Bilder von Free-Palastine-Demonstrant*innen angezeigt.) Wer auf diesen Umstand hinweist, erntet, so Baddiel, schnell den Vorwurf, die Diskriminierungserfahrungen anderer Minderheiten relativieren oder legitime Kritik unterdrücken zu wollen, indem man sich besonders laut als Opfer geriert. Dabei ist ja das Gegenteil der Fall. Nicht den einen soll weniger Anerkennung ihrer Erfahrungen zuteilwerden, sondern den anderen mehr. Und na ja, der Vorwurf des ständigen Opferseins ist sattsam aus anderen politischen Milieus bekannt.
„Und die Juden?“ ist eine Einladung zur Diskussion über blinde Flecken (wenn man es freundlich formuliert) und offenen Antisemitismus innerhalb des progressiven Lagers, das für sich in Anspruch nimmt, für sämtliche Diskriminierungserfahrungen überdurchschnittlich sensibilisiert zu sein. Es ist ein streitlustiges, wohlüberlegtes Buch, insbesondere dort, wo es doppelte Standards in der Diskussion aufdeckt. Dort, wo ein Jude wie David Baddiel plötzlich nicht mehr darüber sprechen soll, wenn er Antisemitismus an unliebsamer Stelle entdeckt. Wo er sich von denen, die sonst dafür eintreten, dass Betroffene die Deutungshoheit besitzen, aus nicht betroffener Perspektive über Antisemitismus belehren lassen muss. Es lohnt sich sehr, über seine Thesen nachzudenken und seine Erfahrungen ernst zu nehmen!
David Baddiel: Und die Juden? Aus dem Englischen von Stephan Kleiner. Hanser. 136 Seiten. 18,00 €.