Dana Buchzik über Radikalisierung

Dana Buchzik ist Kulturjournalistin, war Redaktionsleiterin der deutschen Sektion der „No Hate-Speech“-Kampagne und gibt Workshops zum Thema Hass (im Netz) und Verschwörungserzählungen. Außerdem berät sie ehrenamtlich Menschen zum Thema Radikalisierung. Oft sind das Angehörige, die nach einem Weg suchen, wieder Zugang zu Verwandten und Freunden zu finden, die in Verschwörungserzählungen eine emotionale Heimat gefunden haben. Auf Instagram (@herzkater) gibt sie immer wieder wertvolle Tipps zu Kommunikation und Umgang mit Radikalisierung, individuell aber auch medial. Gerade ist ihr Buch „Warum wir Familie und Freunde an radikale Ideologien verlieren – und wie wir sie zurückholen können“. Im Interview verrät sie, warum Gegenrede meistens nutzlos ist und weshalb wir auf Augenhöhe miteinander sprechen müssen.

Wie hast du das Erstarken und die zunehmende mediale Präsenz der Impfgegner-, QAnon- oder Querdenkerbewegung wahrgenommen? Was waren deine ersten Gedanken dazu?

In Deutschland hat es ja leider Tradition, vor allem unter Linken und unter Menschen mit Migrationsgeschichte nach Radikalen zu suchen, während allen anderen erst mal das Beste unterstellt wird. CSU-Chef Markus Söder hat noch im Januar 2021 allen Ernstes vor der Gefahr einer „Corona-RAF“ gewarnt, also zu einer Zeit, in der die rechte Präsenz auf Querdenker-Demos längst offensichtlich war. Polizisten haben Querdenkern gegenüber lange eine Nachsicht gezeigt, von der Demonstranten aus dem linkspolitischen Spektrum nur träumen können. Mehrere Spitzenpolitiker haben lieber Querdenkern öffentlich ihr Verständnis ausgesprochen, statt sich mit denen zu solidarisieren, deren Leben durch Querdenker gefährdet werden. Der Journalismus hat gefühlt minütlich Querdenken-Pressemitteilungen wiedergekäut und Exklusivinterviews mit Radikalen gebracht. Dieser Fehler ist in der Vergangenheit schon so oft gemacht worden, sei es in Deutschland bei Pegida oder in den USA bei Donald Trump. Wer radikalen Akteuren die große Bühne bietet, normalisiert Menschenfeindlichkeit.

Du schreibst im Buch, dass der Begriff Radikalisierung oft zu eng gefasst wird; vor allem als gewaltbereiter politischer Extremismus, der sich die Abschaffung der Demokratie auf die Fahnen schreibt. Weshalb ist diese Verengung problematisch?

Solange wir den Begriff Radikalisierung nur für islamistische Attentäter oder rechte Schlägertrupps reservieren, sind wir blind für andere Formen der Menschenfeindlichkeit. Wir tun dann beispielsweise rassistische Parolen am Kaffeetisch oder die Verweigerung eines Tetanus-Impfschutzes für Kinder als harmlosen Spleen ab, obwohl sie das eben nicht sind. Radikalisierung hat viele Gesichter und wir sollten jedes davon ernst nehmen.

Woran kann man radikale Gruppen erkennen?

Es gibt meist keine eindeutigen äußerlichen Erkennungszeichen. Viele radikale Gruppen achten ja darauf, möglichst unauffällig zu wirken, damit sie gesellschaftliche Strukturen noch besser unterwandern können. Wir haben am ehesten die Chance, Radikalisierung im direkten Umfeld zu erkennen: Vielleicht gibt der Partner plötzlich seinen Job auf, weil er glaubt, sich ganz der Arbeit für eine radikale Gruppe widmen zu müssen. Vielleicht wirbt die Schwester penetrant für eine Geistheilerin, die vermeintlich ihr Leben gerettet hat. Vielleicht zieht sich der partyfreudige Teenagersohn in sein Zimmer zurück und zitiert in Alltagsgesprächen permanent aus dem Koran oder der Bibel. Solche Verhaltensänderungen sollten uns wachsam werden lassen, gerade wenn sie mit Missionierungsversuchen einhergehen.

Du berätst Menschen, deren Angehörige sich radikalisiert haben. Welche Fragen kommen da am häufigsten auf?

Die zwei wohl häufigsten Fragen lauten: „Soll ich den Kontakt abbrechen?“ und „Hast du mal kurz ein gutes Argument für mich?“ Der Wunsch nach einer schnellen Lösung ist verständlich; es ist enorm belastend, wenn ein geliebter Mensch sich radikalisiert. Und natürlich können wir mit deeskalierenden Kommunikationstechniken schnell Druck aus der Situation nehmen, aber es gibt nicht das eine magische Argument, das unser Gegenüber binnen Minuten deradikalisiert. Es gibt auch keinen allgemeingültigen Zeitpunkt, wann der Kontakt abgebrochen werden müsste. Freunde und Familie sind nicht zuletzt deswegen die mächtigste Allianz im Kampf gegen Radikalisierung, weil sie bereit sind, zu bleiben, auch wenn es schwierig wird. Wenn wir unsere Kommunikation bewusst auf neue Füße stellen, können wir eine Menge bewegen. Die Entscheidung, ob es uns die Mühe wert ist, kann uns niemand abnehmen.

Radikalisierung ist natürlich ein sehr individueller Prozess, aber gibt es Dinge, die viele Radikalisierte miteinander teilen, trotz all ihrer Verschiedenheit?

Radikalisierung kann sich auf ganz unterschiedliche Weise zeigen. Manche schließen sich einer Sekte an, weil sie glauben, dass deren Anführer Frieden und Glück in die Welt bringen wird. Manche hetzen bei Twitter gegen Politik und Wissenschaft und halten sich dabei für Widerstandskämpfer. Manche planen Anschläge, weil sie sich einreden, vermeintliche Ungläubige auslöschen zu müssen. Was all diese Menschen gemeinsam haben, ist der Wunsch, sich das eigene Leben als Heldengeschichte zu erzählen. Sich als Auserwählter zu fühlen, auf den unsterblicher Ruhm wartet.

Viele von uns haben es schon erlebt, sei es online oder offline. Man versucht, Verschwörungsmythen und radikale Überzeugungen mit rationalen Argumenten und seriösen Quellen zu widerlegen, um eine radikalisierte Person umzustimmen. Weshalb kann das nicht funktionieren?

Mein Lieblingsbeispiel ist hier ein Raucher: Wenn wir dem einen Faktencheck über Risiken und Nebenwirkungen vorlegen, wird er dann sofort alle Zigaretten entsorgen und uns unter Freudentränen für unsere Aufklärungsarbeit danken? Rauchen erfüllt eine emotionale Funktion, die wichtiger ist als Fakten und Argumente. Ähnlich ist es auch bei Radikalisierung, auch wenn die emotionale Funktion hier natürlich viel existenzieller ist als die einer Zigarette.

Du kritisierst den „Goldstandard“ der Gegenrede im Netz, von dem vor allem die Plattformen selbst profitieren. Weshalb?

Online-Gegenrede kann sehr gefährlich sein. Wir wissen nicht, wie radikal unser Gegenüber ist. Wir wissen nicht, welcher Gruppe er angehört und wie diese Gruppe mit Andersgläubigen umgeht. Wir wissen nicht, ob er sich durch eine Diskussion oder einen einzigen spöttischen Kommentar so bedroht fühlt, dass er sich offline an uns rächen will. Dazu kommt, dass die meisten Menschen sich mit deeskalierenden Gesprächstechniken nicht auskennen, und dass Diskussionen online schneller entgleisen, weil wir die Regeln des gesellschaftlichen Miteinanders nicht mehr so gut spüren, wenn wir unser Gegenüber weder sehen noch hören können. Wir können also bei Gegenrede nur verlieren. In meinen Augen ist es wirklich zynisch, dass ausgerechnet die großen Plattformen, die über Jahre hinweg radikalen Akteuren ihre Bühne geboten haben, jetzt nahelegen, es sei quasi Bürgerpflicht, Gegenrede zu betreiben. Das Einzige, was Gegenrede ganz sicher bringt, sind Gewinne für Meta & Co., denn je mehr Zeit wir online mit sinnlosen Diskussionen vergeuden, desto mehr Werbeanzeigen können uns ausgespielt werden.

Statt radikalisierte Personen im persönlichen Umfeld immer wieder mit Fakten zu bombardieren oder ihre Überzeugungen abzuwerten, rätst du dazu, auf Augenhöhe kommunizieren. Wie kann eine solche Kommunikation aussehen?

Ich empfehle in meiner Kommunikationsberatung vor allem drei Strategien: Allianzen suchen, mit Faktenbingo aufhören und Grenzen setzen. Je mehr gemeinsame Freund*innen oder Angehörige wir an Bord haben, desto besser können wir verstehen, welche konkreten Vorteile die Radikalisierung für die Person hat, und desto bessere Alternativangebote können wir entwickeln. Im zweiten Schritt geht es darum, konsequent nicht mehr zu argumentieren und zu diskutieren. Wir haben ja oft genug die Erfahrung gemacht, dass das nicht funktioniert. Im dritten Schritt sollten wir einen Raum für die radikale Ideologie schaffen – und auch für unsere Haltung dazu. Nicht nur wir fühlen uns nämlich mit belastenden Inhalten überflutet, unserem Gegenüber geht das genauso. Wir können zum Beispiel eine Zeit in der Woche festlegen, in der mal der eine, mal der andere von seinen Überzeugungen erzählt. Dabei sollte ihm nicht widersprochen werden, wenn er keine persönlichen oder juristischen Grenzen überschreitet. Außerhalb dieser klar definierten Zeit wird aber nur über andere Themen gesprochen. Das erinnert beide Seiten daran, dass die radikale Person mehr ist als eine Ideologie.

Moses Lee, unsplash.com


Wann ist es ratsam oder auch notwendig, Hilfe von außen in Anspruch zu nehmen? Welche Anlaufstellen kannst du empfehlen?

Ich plädiere dafür, sich so früh wie möglich Unterstützung zu suchen. Ein privates Netzwerk erscheint mir sehr wichtig, weil Freund*innen oder Angehörige die radikale Person einfach am besten kennen, und weil sich in so einem Netzwerk auch persönlicher Beistand schnell organisieren lässt. Eine Beratungsstelle kann aber wichtiges Fachwissen vermitteln, sowohl zu Radikalisierung als auch zu deeskalierender Kommunikation. Weil die Psychologie von Radikalisierungsprozessen letztlich immer gleich ist, kann – und sollte – jede Beratungsstelle weiterhelfen. Wir können uns also, wenn ein geliebter Mensch zum Beispiel in einen Verschwörungsglauben abrutscht, durchaus an eine Beratungsstelle mit Schwerpunkt auf Islamismus oder Sekten wenden. Eine Übersicht von bundesweiten Beratungsstellen gibt es zum Beispiel bei der bpb[1] und bei der Erzdiözese München und Freising.[2]

Wie sollten wir zukünftig politisch und gesellschaftlich Radikalisierungsprozessen begegnen? Vermutlich wird die Abschaltung von Telegram, wie jüngst von Innenministerin Nancy Faeser gefordert, nicht die Lösung sein.

Eine Abschaltung von Kanälen und Plattformen löst das Problem nicht, sondern verschiebt es nur. Wer hetzen will, wird dafür immer Orte finden, und die Gewalt findet ja schon längst auch offline statt, ob sie nun auf Facebook, Telegram oder Gettr geplant wurde. Was wir brauchen, sind Überblicksarbeiten über radikale Gruppen in Deutschland und Forschung zu wirksamen Deradikalisierungsstrategien. Wir brauchen Aufklärungskampagnen, nicht nur, aber vor allem in den Schulen dazu, wie sich Manipulation erkennen lässt. Wir brauchen langfristige Finanzierung für Beratungsstellen und Ausstiegsangebote, wo wissenschaftlich fundiert gearbeitet wird, und einen Förderstopp für die, bei denen das nicht der Fall ist. Vor allem aber brauchen wir den politischen Willen, wirklich gegen Radikalisierung vorzugehen und das Problem nicht nur bis zur nächsten Wahl zu verwalten.

Vielen Dank für das Gespräch, liebe Dana!

Dana Buchzik: Warum wir Familie und Freunde an radikale Ideologien verlieren – und wie wir sie zurückholen können. 256 Seiten. Rowohlt Polaris. 18,00 €.

Autorinnenfoto: Caroline Pitzke

[1] https://www.bpb.de/politik/extremismus/radikalisierungspraevention/208847/anlaufstellen-und-beratung-finden

[2] https://www.weltanschauungsfragen.de/beratung/beratungsstellen/

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4 Kommentare

  1. Viele wichtige und hilfreiche Infos. Im Buch gibt es noch viel mehr. Absolute Leseempfehlung.

    1. Vielen Dank. Und ja: Das Buch ist unbedingt lesenswert, hat bei mir auch manches verändert im Online-Verhalten.

  2. Vielen Dank für dieses überaus lesenswerte Interview und den Buchtipp!

    1. Vielen Dank! Lange nichts von dir gehört/gelesen. 😉

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