Was passiert eigentlich in unseren Köpfen, wenn wir lesen? Sehen wir einen lebendigen Film vor unserem inneren Auge? Nehmen wir Gerüche und Geräusche wahr, die im Buch beschrieben sind? Haben wir detaillierte Vorstellungen davon, wie Protagonist:innen aussehen? Oder sehen wir vielleicht einfach nur Buchstaben auf Papier und denken auf nonvisueller Ebene über das Gelesene nach? Das scheint sehr unterschiedlich zu sein und Vorstellungskraft im Allgemeinen ein Spektrum mit zwei Extrempolen und einer Menge dazwischen.
Ich stoße vor Kurzem eher zufällig auf den Begriff der Aphantasie. Er bezeichnet die Unfähigkeit, sich etwas visuell vorzustellen. Wo andere gestochen scharfe Bilder sehen, passiert bei Menschen mit Aphantasie überhaupt nichts, die innere Leinwand bleibt schwarz. Erst seit 2015 wird zu Aphantasie geforscht, dementsprechend weiß man noch nicht viel über die Ursachen dieses Phänomens, aber man schätzt, dass 3–5 % der Menschen betroffen sind. Klar ist: Aphantasie ist keine Störung oder Krankheit, sondern eine individuelle Ausprägung des Vorstellungsvermögens. Als ich einen Artikel dazu lese, kommt mir erstmalig der Gedanke, ich könnte vielleicht aphantastisch oder hypophantastisch (also unterdurchschnittlich vorstellungsbegabt) sein. Ich habe Freunde und Bekannte, die Autor:innen, Künstler:innen oder gar Synästhet:innen sind. Sie können sich eine Menge vorstellen, Geschichten und Bilder im Kopf entwickeln und diese Ideen auf Papier oder Leinwände transferieren. Wenn sie lesen, spielt sich eine Menge ab in ihren Köpfen, aus blumigen Landschaftsbeschreibungen können sich klare Bilder zusammensetzen – und sie wissen sehr genau, wie die Protagonist:innen aussehen, von denen sie da lesen.
Als ich einen Artikel dazu lese, kommt mir erstmalig der Gedanke, ich könnte vielleicht aphantastisch oder hypophantastisch (also unterdurchschnittlich vorstellungsbegabt) sein.
Ich bezweifle ein bisschen, dass ich jemals so gelesen habe. Ich kann mich an Sprache erfreuen, an Klang, an Ästhetik und Doppeldeutigkeit, an Einfallsreichtum in der Metaphorik. Aber produziert mein Gehirn lebhafte Bilder und Szenen, parallel zur Lektüre? Ich habe mich bei Buchverfilmungen nie darüber beschweren können, dass ich mir Personen oder Orte ganz anders vorgestellt habe, weil ich sie mir in aller Regel einfach gar nicht vorgestellt habe. Schon mehr als einmal habe ich zu Menschen gesagt, ich hätte keine Fantasie. Das wurde nicht selten mit dem Gegenargument zurückgewiesen, dass mein Schreiben eine „kreative“ Tätigkeit sei. Und zu einer kreativen Tätigkeit gehört offenkundig Vorstellungskraft für einige Menschen zwangsläufig dazu.
Ich mache ein paar Onlinetests, u. a. den VVIQ (Vividness of Visual Imagery Questionnaire), in dem man zum Beispiel gebeten wird, sich äußerliche Merkmale und Bewegungsmuster nahestehender Menschen vor Augen zu rufen oder sich einen Sonnenaufgang vorzustellen. Ich tue mich schwer, insbesondere damit, Gesichter zu visualisieren. Als der Test mir vorgibt, mir einen Regenbogen vorzustellen und einzuschätzen, wie lebhaft diese Vorstellung ist, denke ich an ein Foto, das meine Mutter mir vor einigen Tagen geschickt hat. Ich erinnere mich an das Foto. Ist das nun eine Vorstellung oder eine relativ fantasielose Erinnerung an etwas Gesehenes? Ich gerate ins Grübeln darüber, wann ich einfach über das Konzept „Baum“ oder „Haus“ nachdenke und wann ich mir tatsächlich einen Baum oder ein Haus mit allen Sinneseindrücken, die damit zu tun haben, vorstelle. Am Ende sagt der Test mir, ich sei möglicherweise hypophantastisch – prinzipiell also schon in der Lage, innere Bilder hervorzurufen, allerdings deutlich weniegr ausgeprägt als andere Menschen.
Als der Test mir vorgibt, mir einen Regenbogen vorzustellen und einzuschätzen, wie lebhaft diese Vorstellung ist, denke ich an ein Foto, das meine Mutter mir vor einigen Tagen geschickt hat.
Wenn ich versuche, zu malen oder zu zeichnen, fällt mir das manchmal auf die Füße. Ich bin praktisch außerstande, etwas ohne Vorlage zu zeichnen, meine Vorstellungskraft versagt bei den einfachsten Dingen. Hinzu kommt, ganz unabhängig von meiner Vorstellungskraft, ein quasi frühkindlich entstandener Sehfehler. Ich kann nicht räumlich, d. h. nicht dreidimensional, sehen. Ich bekam schon als Kleinkind eine Brille, weil ich stark geschielt habe. Turns out: Wenn das so ist, lernt das Gehirn nicht, die visuellen Eindrücke beider Augen gleichermaßen zu nutzen und daraus quasi ein gemeinsames Bild zu machen: „Besonders im Kleinkindalter kann es also sein, dass das räumliche Sehen von einer Sehschwäche oder durch ein Schielen beeinträchtigt wird. Das Gehirn kehrt dann das schwächere, störende zweite Bild einfach unter den Teppich. So kann sich die Sehleistung des schwächeren Auges nicht richtig entwickeln. […] Bleiben diese Sehfehler jedoch unbemerkt, so wirken diese sich auf das räumliche Sehen für den Rest des Lebens aus. Die Sehkraft lässt sich auf dem schwächeren Auge nicht wiederherstellen und das Sehen bleibt zweidimensional.“ (Quelle)
Warum das eine Rolle spielt? Mein Gehirn tut sich extrem schwer damit, sich Dinge dreidimensional vorzustellen oder dreidimensionale Objekte im Kopf „zu drehen“. Will ich mir also etwas vorstellen, stoße ich mitunter aus zweierlei Gründen an die Grenzen meiner Vorstellungskraft. Weil ich keine Fantasie habe und weil mein Gehirn nie gelernt hat, quasi in 3D zu denken. (Falls sich jemand fragt: Man kommt durch Erfahrungslernen trotzdem prima durch die Welt, als Kind bin ich allerdings überdurchschnittlich häufig hingefallen, weil ich dort, wo Stufen waren, vermutlich ebene Flächen gesehen habe.)
Es wird oft gesagt, dass Aphantasie und ihre verschiedenen Abstufungen bei den meisten Menschen keinen Leidensdruck verursachen und mutmaßlich stimmt das auch. Viele wissen ja vermutlich gar nicht, dass sie außergewöhnlich schlecht darin sind, sich etwas vorzustellen. Als Mensch mit psychischen Erkrankungen bin ich allerdings schon des Öfteren in Therapiekontexten mit Imaginationsübungen konfrontiert gewesen. Zur Entspannung, zur Etablierung eines sicheren inneren Ortes oder Erschaffung innerer Helfer, die in Krisensituationen regulativ wirken sollen. Es gibt viele Gründe, weshalb Imaginationsübungen unwirksam sind, über die schlichte Unfähigkeit, sich etwas lebhaft vorzustellen, habe ich dabei allerdings noch nie nachgedacht. Auch EMDR lebt davon, sich Situationen (und dazugehörige Gefühle) vor dem inneren Auge präsent zu machen. Wenn das nicht gelingt, muss der Therapieansatz scheitern.
Ich scheine vielmehr einfach die Sachinformation aufzunehmen, ohne sie in etwas Visuelles umzusetzen.
Zurück zum Lesen: Mit dem neu erworbenen Wissen versuche ich, ein paar Zeilen zu lesen. Mein Gehirn fühlt sich jetzt völlig verwirrt an, wahrscheinlich das typische „Denken Sie jetzt nicht an einen rosa Elefanten“-Phänomen. Ich denke beim Lesen gleichzeitig viel zu sehr darüber nach, ob ich mir jetzt dabei etwas vorstelle und wenn ja, in welchem Ausmaß. Eine Textstelle wie Karlotta blickte auf ihre Schuhe, sie standen in einer Pfütze aus Schaum und Zigarettenkippen (übrigens aus: Auf der Straße heißen wir anders von Laura Cwiertnia) scheint mir ganz gut geeignet zu sein, um die Vorstellungsbereitschaft meines Gehirns zu überprüfen. Ich merke: Ich stelle mir weder die Schuhe noch die Pfütze aus Schaum und Zigarettenkippen vor. Der Schaum hat keine Farbe oder Konsistenz, zum Glück keinen Geruch, keine Ahnung, ob die Schuhe jetzt Stiefel oder Chucks sind oder wie viele Zigarettenkippen drumherum liegen. Ich scheine vielmehr einfach die Sachinformation aufzunehmen, ohne sie in etwas Visuelles umzusetzen. Das Konzept „Schuh“ als etwas, in das man seine Füße steckt, genügt. Wie genau dieser „Schuh“ beschaffen ist, spielt keine Rolle.
Vorstellungskraft ist ein Kontinuum
Vorstellungskraft ist ein Kontinuum: Manche können sich gar nichts vorstellen, andere versinken regelmäßig in so lebhaften Tagträumen, dass sie manchmal Schwierigkeiten haben, diese Tagträume von der Realität zu unterscheiden (heißt dann übrigens Hyperphantasie). Dazwischen gibt es vermutlich 50 Shades of Fantasie. So können sich einige nur vorstellen, was sie schon einmal gesehen haben und gründen ihre Vorstellungen vor allem auf bereits erlebte visuelle Eindrücke. Sollen sie sich etwas Beliebiges vorstellen, funktioniert es nicht. Ich komme zu dem Schluss, dass ich vermutlich nicht aphantastisch bin. Ich kann mir etwas vorstellen, allerdings ist es oft deutlich anstrengender und offenkundig kein Automatismus, der einfach so abläuft. Ich muss mich bewusst dazu entschließen, mir etwas vorzustellen und das klappt dann, je nachdem, was es ist, mal mehr und mal weniger gut.
Angesichts meiner recht hohen Neigung zur Reizüberflutung aber vielleicht kein schlechtes Feature.
Beitragsbild: Photo by J. Balla Photography on Unsplash
Oh wow – danke für das Teilen deiner Erfahrung und Erkenntnisse. Ich stelle mir das Gefühl sehr seltsam vor, etwas über sich zu erfahren, obwohl man schon „erwachsen ist“ (was auch immer das bedeutet) und dann erst etwas so fundamental wirkendes über sich lernt. So erging es mir (mehr oder weniger ähnlich) als ich bemerkt habe, dass ich schnell abbaue. Also das rapide weniger gut lerne als früher und meine eigenen kognitiven Grenzen das erste Mal gespürt habe. Bei mir war es so ein trockenes „Aha, so ist das also“ Gefühl.
Vorstellungskraft und andere „nicht sichtbare oder demonstrierbare Eigenschaften“ sind was, worüber irgendwie sehr wenig geredet wird und was man sich (no pun intended) manchmal schwer vorstellen kann. Umso wichtiger, dass auch mal über diese Aspekte des Selbst gesprochen wird. Wie geht es dir heute damit? Hat sich irgendwas für dich verändert?
[…] Habe ich keine Fantasie? Sophie schreibt in Literature Matters nicht nur stets über interessante Bücher, sondern dieses Mal auch über die Lesewahrnehmung. […]
Lieben Dank für einen Einblick in Deine Erfahrungen;)
LG
Charlotta
Ein sehr interesssantes Thema mit vielen menschlichen Aspekten
Gedanken(K)kraft Phantasie oder Imagination, denn beide sind im mehr als Kontext, im Hinblick auf Intuition nicht identisch
Herzlichen Dank und l. G.