Erik Marquardt: Europa schafft sich ab

An den EU-Außengrenzen und auch innerhalb der EU werden seit Jahren Menschenrechte mit Füßen getreten. 2012 wurde die EU mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet, heute gibt es, insbesondere in Bezug auf Asylpolitik, nur noch wenig Grund für solche Auszeichnungen. Statt für eine nachhaltige, rechtsstaatliche Flüchtlingspolitik hat man sich für Abschreckung und Abschottung entschieden – und nimmt dafür billigend und wissentlich die Herabwürdigung und systematische Verletzung Schutzbedürftiger in Kauf.

Als sich eine Frau im Lager [Anmerkung: in Moria, S.W.] selbst anzündet, um sich umzubringen, wird sie danach wegen Brandstiftung vor Gericht gestellt. Geflüchtete, die im Lager ohne Maske herumliefen, mussten 150 Euro Strafe zahlen. Verdorbenes Essen wird ausgegeben, manchmal kriechen sogar Würmer in den abgepackten Gerichten herum. De Cateringfirma gehört dabei einem Verwandten eines Regierungspolitikers. Pro Monat erhält er mehr als eine Million Euro für die Verpflegung.

Erik Marquardt sitzt für die Grünen im EU-Parlament und hat sich seit 2015 intensiv mit europäischer Flüchtlingspolitik beschäftigt. Mehrmals war er auf Lesbos, unterstützte die Seenotrettung oder begleitete Asylsuchende entlang der Balkanroute. In „Europa schafft sich ab“ dokumentiert er seine Erfahrungen und plädiert für ein politisches Umdenken. Er schildert nicht nur die katastrophalen Zustände in behelfsmäßigen Flüchtlingslagern und an den Grenzen, Marquardt belegt auch den offensichtlichen Unwillen der Verantwortlichen, diese Zustände zur Kenntnis zu nehmen – von deren Besserung ganz zu schweigen.

Im Oktober zeigte der Guardian Fotos und Berichte über mehrere Fälle, in denen es zu Folter und sexualisierter Gewalt durch kroatische Beamte kam. Im November veröffentlichte der SPIEGEL ein Video von Pushbacks, in denen vermummte Uniformierte Menschen mit langen Schlagstöcken über die Grenze prügeln. (…) In Bosnien wurde zwar bereits vor dem Winter 2019 das Camp Vučjak geschlossen, doch auch in dem neu eingerichteten Lager Lipa herrschten ähnlich katastrophale Bedingungen. Die IOM warnte mehrfach vor einer humanitären Katastrophe in dem Lager, da es nicht winterfest sei. Im Dezember 2020 brannte das Camp vollständig ab. Bewohner:innen hatten in den großen unbeheizten Sommerzelten bei Minusgraden ein Feuer entzündet, um nicht zu erfrieren. Über Wochen konnten sich die bosnischen Behörden nicht auf eine Unterbringung mit Heizmöglichkeit für die plötzlich obdachlosen Menschen einigen.

Seit 2015 argumentieren Politiker*innen im Zusammenhang mit Migrationspolitik immer wieder mit Fehlannahmen oder nachweisbar falschen Informationen und Daten, um die politische Agenda zu legitimieren. Es wäre gar von Nachteil, wenn sich die Lebensumstände für Geflüchtete in Griechenland, Serbien oder Ungarn verbesserten, so die unausgesprochene Überzeugung. Je besser die Zustände und die Versorgung, desto mehr Menschen werden kommen, so die falsche, längst widerlegte Prämisse. Dass von den über 80 Millionen Menschen, die sich derzeit weltweit auf der Flucht befinden, der größte Teil innerhalb ihrer Heimatländer flüchtet, spielt argumentativ längst keine Rolle mehr. Dass Menschen einfach nicht mehr flüchten, wenn die Fahrt über das Mittelmeer zu gefährlich ist, hat sich nicht bewahrheitet. Stattdessen sind seit 2015 schätzungsweise 14.800 Menschen im Mittelmeer ertrunken. Einige hätten gerettet werden können, wenn die Seenotrettung nicht immer wieder kriminalisiert und politisch sabotiert worden wäre; wenn unterlassene Hilfeleistung nicht Teil der Abschreckungs-Agenda wäre.

Foto: Phil Bota, unsplash.com

Das Märchen vom „Pull-Faktor“ hält sich wacker und weil das so ist, werden Menschen an den Grenzen illegal zurückgedrängt, geschlagen, gefoltert, beraubt oder hilflos auf dem Meer zurückgelassen. Die europäische Grenzschutzagentur Frontex hat erheblichen Anteil an illegalen Pushbacks und ihrer Verschleierung. Offenbar ohne größere Bedenken wird weiterhin mit der libyschen Küstenwache zusammengearbeitet, obwohl längst bekannt ist, wie grauenvoll die Situation in libyschen Gefängnissen ist. In einem kürzlich veröffentlichen Bericht von Amnesty International heißt es: „Die neuen Recherchen von Amnesty International zeigen, dass Geflüchtete dort willkürlich in Haft genommen und systematisch Folter, sexualisierter Gewalt, Zwangsarbeit und anderer Ausbeutung ausgesetzt werden.“ (Quelle). Der europäische Auswärtige Dienst fasst die Zusammenarbeit hingegen folgendermaßen zusammen: „Die Effektivität der libyschen Küstenwache konnte gesteigert werden und exzellente Ergebnisse erzielen.“ (Quelle).
Natürlich weiß die EU, wen sie da unterstützt und von wem sie sich da unterstützen lässt.

Fluchtursachen bekämpfen zu wollen ist die Prokrastination der europäischen Asylpolitik, nicht ihr Inhalt.

Nicht nur in Lybien sind die Bedingungen so katastrophal, auch in anderen Ländern wird alles dafür getan, dass Geflüchtete weder am dortigen Leben teilnehmen und Geld verdienen können, noch ein faires Asylverfahren erhalten. Viele Länder, darunter Griechenland, setzen darauf, dass die Menschen sich so kurz wie möglich dort aufhalten. Verbesserungen der Lage werden versprochen, aber nicht umgesetzt: Moria und heute Kara Tepe zeugen vom Unwillen, den Menschen menschenwürdig zu begegnen. Auch hier ist die Taktik klar ersichtlich: Flucht und das Leben danach sollen so gefährlich und unwürdig werden, dass niemand mehr versucht, Europa zu erreichen. Als hätten sich alle gemeinsam darauf geeinigt, Schutzsuchenden nur noch die Fratze Europas zu zeigen. Und das, obwohl Asyl ein Grundrecht ist. Jeder und jede hat das Recht auf ein faires Asylverfahren, in dem Fluchtgründe geprüft werden. Asyl ist kein Luxus, Asyl ist kein bunter Traum linksgrüner Utopist*innen: „Asyl ist ein Grundrecht und es ist eine internationale Verpflichtung der Vertragsparteien des Genfer Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge von 1951, zu denen auch die Mitgliedstaaten der EU gehören, Personen, die die im Abkommen festgelegten Kriterien erfüllen, dieses Recht zu gewähren.“, sagt das EU-Parlament.
Einige Mitgliedsstaaten der EU interessieren sich für dieses Grundrecht nicht. Und die EU weiß das. Der offensichtliche Rechtsbruch an den Außengrenzen wird stillschweigend gebilligt, die Gefahr in einigen Herkunftsländern der Geflüchteten systematisch unterschätzt. So haben unlängst Horst Seehofer und auch Christian Lindner signalisiert, weiterhin Geflüchtete nach Afghanistan abschieben zu wollen, obwohl die Taliban dort nach dem Abzug internationaler Truppen schnell wieder an Macht gewinnen und das für viele Menschen eine tödliche Gefahr bedeutet. Auch Abhängigkeitsverhältnisse zwischen EU-Staaten oder das berühmte Abkommen mit der Türkei erschweren eine nachhaltige Lösung.

Foto: Mika Baumeister, unsplash.com

 

Im August 2020 wurde das Ausmaß der Menschenrechtsverletzungen immer sichtbarer. Wie die New York Times mit Hilfe von verschiedenen Quellen nachweisen konnte, wurden mindestens 1072 Geflüchtete von der griechischen Küstenwache auf kleinen Rettungsinseln auf dem Meer ausgesetzt.

 

Marquardts Buch zu lesen, ist in Teilen beinahe unerträglich. Es wird deutlich, dass wir politische Reformen brauchen, die nicht nur auf dem Boden rechtsstaatlicher Prinzipien stehen, sondern auch den Herausforderungen angemessen sind, die in der Zukunft auf uns zukommen. Seit Jahren machen u.a. Klimaforscher*innen darauf aufmerksam, dass mit dem Fortschreiten des Klimawandels unweigerlich neue Migrationsströme entstehen werden. Menschen werden ihre Heimat verlieren und aus Gegenden flüchten müssen, die z. B. aufgrund extremer Hitze oder des ansteigenden Meeresspiegels unbewohnbar werden. Wie viele Mauern sollen noch gebaut und wie viele Menschen noch entrechtet werden, bis wir begreifen, dass das keine Lösung ist? Marquardt macht einige Vorschläge für eine bessere Politik, u. a. Patenschaften, feste Kontingente und daran geknüpfte finanzielle Anreize oder die Abschaffung des Dublin-Verfahrens. Schon heute können viele nicht mehr in die Länder zurückgeschickt werden, die sie bei der Einreise zuerst betreten haben – weil dort die Lebensumstände so katastrophal sind. „Europa schafft sich ab“ ist ein journalistisches und dokumentarisches Zeugnis, wie es mittlerweile einige gibt. Es ist wichtig, dass diese Zeugnisse und Stimmen gehört werden. Noch wichtiger ist, immer wieder politisch Druck aufzubauen und dem Status Quo entschieden zu widersprechen. So lange, bis endlich jemand willens ist, zuzuhören.

Erik Marquardt: Europa schafft sich ab. Rowohlt Polaris. 264 Seiten. 14,00 €.

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1 Kommentar

  1. Hallo Sophie,

    mir gefällt dein neuer Blog sehr gut! Das Buch trifft den Kern der Zeit und ist umso wichtiger. Ich glaube, dass es beim Lesen oft unerträglich scheint, sich mit dem auseinanderzusetzen, was wir Realität nennen (müssen).

    Zeilentänzerin

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