Als Nagel & Kimche Ann Petrys ursprünglich 1946 erschienenen Roman The Street 2020 neu auflegte, wurde er zu Recht als Wiederentdeckung gefeiert. Die Geschichte der alleinerziehenden Lutie Johnson ist stark erzählt, vielschichtig und mit einem psychologisch so feinen Blick versehen, dass Gewaltstrukturen in ihrer Komplexität sichtbar werden. Tatsächlich ist Petrys Roman noch zu ihren Lebzeiten auf Deutsch übersetzt worden, bereits 1982 erschien er in der Ullstein-Reihe Die Frau in der Literatur. Damals dürfte das Etikett der Frauenliteratur, von der afroamerikanischen Herkunft der Autorin ganz abgesehen, für ein Nischendasein des großartigen Romans gesorgt haben. Es ist erfreulichen Entwicklungen in Literaturbetrieb und Öffentlichkeit zu verdanken, dass Ann Petry 2020 noch einmal ohne jene Zuschreibungen wiederentdeckt werden konnte, die Literatur von Frauen gern aus der ernsthaften Auseinandersetzung ausschließt.
In diesem Jahr ist nun Country Place erschienen, ein inhaltlich ganz anders aufgestellter Roman, der in seiner psychologischen Präzision aber durchaus mit The Street vergleichbar ist. Im Mittelpunkt stehen diesmal nicht die verdreckten Straßen Harlems, sondern eine fiktive, neuenglische Kleinstadt und ihre vornehmlich weißen Bewohner*innen. Johnnie Roane kehrt, nachdem er im Zweiten Weltkrieg als Soldat gedient hat, nach Lennox zurück und erlebt erstmalig ganz bewusst die Kleingeistigkeit und Abschätzigkeit seiner einstigen Heimat. Petry zeichnet ihn als feinfühligen, kunstfertigen Charakter – er ist belesen und träumt davon, als Maler in der Großstadt zu leben –, ganz im Gegensatz zu den meisten Männern der Geschichte. So gibt der Apotheker des Ortes, ein episodischer Erzähler des Romans, gleich zu Beginn zu Protokoll, von Frauen nicht besonders viel zu halten. Ed Barrell, der eine tragende Rolle als berüchtigter Schürzenjäger spielt, ist vor allem an kurzen Affären interessiert. Der Taxifahrer „Wiesel“ geistert als personifizierter Dorftratsch durch die Geschichte; verschlagen, egozentrisch und übergriffig. Als kompletter Gegenentwurf zum Männlichkeitsbild des Ortes taugt Johnnie allerdings auch nicht. Am Abend seiner Rückkehr wird er gewalttätig gegen seine Ehefrau Glory, die seine Berührungen nach Jahren der kriegsbedingten Trennung nicht mehr erträgt.
Die Frauen im Roman, überwiegend Frauen aus der Arbeiterschicht, wünschen sich ein anderes Leben und gesellschaftlichen Aufstieg. Glory betrügt ihren Ehemann, ihre Mutter hat in die wohlhabendste Familie des Ortes eingeheiratet, ist dort aber kaum zu einer individuellen Lebensgestaltung fähig, weil die Hausherrin, ihrerseits alter Adel, sich jede Veränderung am Haus verbittet. Glorys Mutter hat sich zu einer feindseligen, kalten Frau entwickelt, die insbesondere das Personal des Hauses ihren Hass spüren lässt. In diesem Hauspersonal vereint Petry marginalisierte Figuren des Ortes: eine Schwarze Haushälterin, einen portugiesischen Gärtner und einen osteuropäischen Koch. Sie stehen, anders als in The Street, mit ihren Perspektiven nicht im Mittelpunkt der Geschichte, dienen aber den weißen Protagonist*innen nicht selten als Blitzableiter für ihre rassistischen Ressentiments.
Petry legt, vor dem Hintergrund eines Beziehungsdramas, Schicht für Schicht die Verbohrtheit und Intoleranz vieler Figuren bloß. Es wird getratscht, getuschelt, verurteilt und verteufelt, während über Lennox ein beinahe prophetisches Unwetter tobt. Bäume werden entwurzelt und Menschen demaskiert, die zuvor noch zur Instandhaltung ihrer redlichen Fassade in der Lage waren. Ich war von The Street sehr begeistert, Country Place konnte mich leider, trotz sehr guter Anlagen und feiner Figurenzeichnung, nicht in gleichem Maße überzeugen. Vielleicht auch deshalb, weil ich keine Freundin ausufernder Beziehungsdramen bin. „Wer hat wen wann warum betrogen und was folgt jetzt daraus?“ ist keine Frage, die mich über Hunderte Seiten bei der Stange hält. Freilich geht es Petry nicht vorrangig darum, sie räumt dem jedoch erzählerisch viel Platz ein. Sieht man davon ab, ist Country Place allerdings ein scharf gezeichnetes Kleinstadtporträt, das sicherlich auch auf eigenen Erfahrungen beruht. Petry wurde in Old Saybrook geboren, einer Kleinstadt in Connecticut, und kehrte nach ihrem Studium und einigen schriftstellerischen Erfolgen auch dorthin zurück. Sie wusste um den brodelnden Rassismus und Antisemitismus (im Roman wird der jüdische Anwalt David Rosenberg Opfer solcher Anfeindungen), um Ausgrenzung und Klassismus, um häusliche Gewalt und vermeintlich heile Fassaden.
Eines allerdings hat mir den Text enorm verleidet. Dafür können weder Ann Petry noch Übersetzerin Pieke Biermann etwas, allerdings geht es zulasten ihrer Leistung. Offensichtlich hat man im Verlag davon abgesehen, ein professionelles Korrektorat des Textes in Auftrag zu geben, vielleicht aus Zeit- und Kostengründen, vielleicht weil man sich auf automatisierte Fehlererkennung verlassen hat. Das Ergebnis ist eine immens hohe Fehlerdichte. Sonderzeichen mitten im Text, fehlende Wörter, Grammatikfehler, simple Rechtschreibfehler – es ist alles dabei. Selbst die Danksagung Biermanns enthält Fehler. Das ist für alle Beteiligten enorm ärgerlich, vor allem deshalb, weil es so vermeidbar ist. Man kann nur hoffen, dass im 2022 geplanten „The Narrows“ etwas sorgfältigere Textarbeit stattfindet.
Ann Petry: Country Place. Aus dem amerikanischen Englisch von Pieke Biermann. Nagel & Kimche. 320 Seiten. 24,00 €.