Aiko Kempen: Auf dem rechten Weg?

Am 18. April 2020 wird der mobile Altenpfleger John H. während einer Schicht von drei Männern attackiert und vom Fahrrad gerissen. Es waren Polizisten in Zivil, die den Mann für einen Drogenkurier gehalten hatten. John H., der vor 15 Jahren aus Ghana nach Deutschland kam, ist von dem Übergriff traumatisiert. Er schläft schlecht, hat Flashbacks und seine Gedanken kehren immer wieder zurück zu dem Vorfall, der laut offiziellen Verlautbarungen der Polizei in Deutschland kein Problem darstellt: Racial Profiling. Das anlasslose Kontrollieren von Menschen allein aufgrund ihrer Hautfarbe oder vermuteten Herkunft ist gesetzlich verboten und dennoch geschieht es regelmäßig. Die Beamten, die John H. angegriffen haben, gehen straffrei aus, das Verfahren wird im April 2021 schließlich eingestellt. Ein Ausgang wie dieser ist keine Seltenheit, sondern bei Fällen rassistischer Polizeigewalt die Regel.

In den letzten Jahren haben sich die Meldungen über rassistische Polizeigewalt und rechtsextreme Netzwerke in Polizei und Sicherheitsbehörden vervielfacht. Chatgruppen, in denen Holocaustverleugnung, rassistische Schimpfwörter und Hitlerbildchen ausgetauscht werden, landen immer wieder in den Nachrichten. Und trotzdem gelingt es einigen Akteur*innen immer wieder, diese Vorfälle als „Einzelfälle“ abzutun, die unter keinen Umständen auf strukturelle Probleme innerhalb des Polizeiapparats hindeuten. Aiko Kempen untersucht in Auf dem rechten Weg? die Fälle der jüngsten Vergangenheit und beleuchtet, welche innerpolizeilichen Strukturen und Argumentationsmuster eine Aufarbeitung nachhaltig verhindern. Spricht man, wie Saskia Esken etwa 2020, öffentlich von „latentem Rassismus“ innerhalb der Polizei, muss man mit hartem Gegenwind rechnen. Immer wieder ist reflexartig von einem „Generalverdacht“ die Rede, dem sich Polizeibeamt*innen allein durch die Feststellung ausgesetzt sähen, es gäbe eine durchaus beachtliche Zahl Rassist*innen und Rechtsextremist*innen unter ihnen.

Dabei ist die „Generalverdacht“-These nichts weiter als ein Strohmannargument. Niemand, der sich für eine Untersuchung von rechtsextremen Gesinnungen innerhalb der Sicherheitsbehörden einsetzt, geht zu irgendeinem Zeitpunkt davon aus, dass jeder Mensch in Uniform rassistisch oder rechtsextrem sei. Selbst Kempen selbst sieht sich genötigt, sein Buch mit der Selbstverständlichkeit zu eröffnen, dass natürlich nicht jede*r Polizist*in dem rechtsextremen Milieu angehört. Und trotzdem diese Entrüstung über eine Behauptung, die niemand je aufgestellt hat, so leicht zu durchschauen ist, bleibt sie nicht nur bestehen, sie verunmöglicht jeden sachbezogenen Diskurs über das Problem. Aiko Kempen kann sehr stichhaltig belegen, dass diese Argumentationsmuster keineswegs neu sind, sondern Diskussionen insbesondere über rassistische Polizeigewalt in immer den gleichen Schleifen verharren.

Hat die Polizei nun ein Problem mit Rassismus und Rechtsextremismus? Die Antwort muss ganz klar „Ja“ lauten, auch wenn das Ausmaß des Problems bislang nicht zu beziffern ist. Das liegt auch daran, dass sich wissenschaftliche Forschung im Umfeld der Polizei als ausgesprochen schwierig erweist. Polizeigewerkschaften und Pressestellen tun viel, um Untersuchungen entweder zu verwässern oder gar nicht erst stattfinden zu lassen. Sie nehmen Einfluss auf Umfragen, indem sie bestimmte Fragen gestrichen oder umformuliert sehen wollen, bevor sie Beamt*innen vorgelegt werden. Mitunter wird so lange an Studiendesigns und Schwerpunkten herumgedoktert, dass das Ergebnis am Ende bis zur Unkenntlichkeit verfälscht ist. Oder der Untersuchungsgegenstand plötzlich ein ganz anderer. Aus der geplanten Rassismusstudie wurde schließlich eine Studie über den Alltag von Polizeibeamt*innen. Aus einer Untersuchung, die Polizeigewalt zum Gegenstand hatte, wurde eine Untersuchung über Gewalt gegen die Polizei. Es ist, gelinde gesagt, schwierig, wenn die Polizei als Institution selbst darüber bestimmt, wer mit welchen Mitteln und Fragestellungen überhaupt an sie herantreten darf. Wer in diesem Land das Privileg des Gewaltmonopols innehat, muss sich Kritik und Kontrollen gefallen lassen.

 

 

Woher aber rühren die Probleme? Welche innerpolizeilichen Strukturen wirken sich begünstigend aus und wie könnte man diese Strukturen verändern? Wenn von einer strukturellen Problematik gesprochen wird, löst das häufig Abwehrreflexe aus. Dabei meint der Strukturbegriff in diesem Fall nur, dass es Gepflogenheiten, Abläufe und Traditionen innerhalb der Polizei gibt, die rassistische und rechtsextreme Gesinnungen toleriert, fördert und verschleiert. Aiko Kempen wirft einen differenzierten Blick etwa auf den vielzitierten Korpsgeist (oder: „Die blaue Mauer des Schweigens“), der dafür sorgt, dass Beamt*innen das Fehlverhalten von Kolleg*innen eher nicht bei Vorgesetzten zur Sprache bringen. Stattdessen deckt man einander, hat praktische Erinnerungslücken, wenn es doch zu disziplinarrechtlichen Maßnahmen oder Gerichtsprozessen kommt oder schweigt. Beamt*innen, die das nicht tun, werden häufig von Kolleg*innen massiv gemobbt und unter Druck gesetzt. Problem ist dann nicht mehr das angeprangerte Fehlverhalten (rassistische Beleidigungen, körperliche Übergriffe usw.), sondern der Hinweis darauf. Wer möchte sich schon, insbesondere, bevor die eigene Laufbahn überhaupt richtig begonnen hat, bei denen unbeliebt machen, denen er oder sie im Zweifel sein oder ihr Leben anvertrauen muss?

Es gibt vielschichtige Gründe für die bestehende Rassismusproblematik. Etwa die relative Homogenität der Polizei und ihrer Belegschaft (eher weiß, eher männlich, eher rechtskonservativ), auch wenn das in den letzten Jahren zunehmend aufbricht. Außerdem eine fehlende unabhängige Beschwerde- und Kontrollinstanz, die verhindert, dass Polizist*innen gegen Polizist*innen ermitteln oder auch die Abgeschlossenheit der Berufsgruppe. Wer länger im Dienst ist, hat schon viel erlebt und gesehen. Viele schließen dann auch privat Freundschaften und bilden auch außerhalb der Arbeitszeit eine homogene Gruppe, in der Erfahrungen und Erlebnisse geteilt werden. Qua Job sehen Beamt*innen immer (!) einen eingeschränkten Ausschnitt der Realität. Verbrechensbekämpfung als Job bringt jede*n *Polizist*in – im Vergleich zur Normalbevölkerung – überdurchschnittlich viel mit Verbrechen und Täter*innen in Kontakt kommen. Diese Realität prägt in der Folge unweigerlich die Wahrnehmung der Betroffenen. Im schlechtesten Fall hin zur Verzerrung oder der Annahme, Personengruppe x sei besonders kriminell. Manche sind erst während ihres Dienstes in Kontakt mit rassistischen Stereotypen gekommen, die vor dem Hintergrund des Berufsalltags irgendwann unhinterfragt übernommen wurden. Was an ihnen rassistisch ist, dass sie überhaupt rassistisch sind, fällt vielen gar nicht auf. Viele bezeichnen sie einfach als „Erfahrungswissen“ aus der täglichen Praxis, ohne die eigene Perspektive wirklich zu hinterfragen. Auch die mangelnde Fehlerkultur spricht das Buch deutlich an.

Aiko Kempen hat für seine Recherchen mit vielen Beamt*innen und Ausbilder*innen gesprochen, die sich einen Wandel in der Polizei wünschen und ein Zeichen für Veränderungsbereitschaft sind. Nach dem NSU, dem NSU 2.0, nach Hannibal und Nordkreuz, nach Todeslisten und Dutzenden rechtsextremen Chatgruppen, nach dem Mord an Oury Jalloh und alltäglicher Gewalt gegen Menschen aus migrantischen Communities kann und sollte man nicht mehr so tun, als sei das Problem ein Fantasieprodukt besonders sensibler Minderheiten. Es geht am Ende um viel mehr. Es geht um Vertrauen in Sicherheitsbehörden und das demokratische System. Es geht ganz unpathetisch um die Demokratie selbst und die Frage, wie unsere Polizei aussehen, mit welchen Mitteln sie ausgestattet werden und wem gegenüber sie rechenschaftspflichtig sein sollte. Auf dem rechten Weg? ist ein differenziertes, kluges und sehr gut recherchiertes Buch.

Aiko Kempen: Auf dem rechten Weg?, Europa Verlag, 240 Seiten, 20,00 €

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