Durch dieses Buch heizt man wie elektrisiert, mit Höchstgeschwindigkeit, gefangen von der Klarheit und Schonungslosigkeit, der Wahrhaftigkeit jedes einzelnen Satzes. Thomas Melle leidet unter einer bipolaren Störung, er ist, wie man früher sagte, manisch-depressiv. Die Bipolarität ist gierig, wenn es darum geht, Identität und Leben des Betroffenen zu zerstören; sei es in den Hochstimmungen der Manie oder den Abstürzen der Depression. Dieses Buch ist gleichzeitig Zeugnis eines Krankheitsverlaufs und ein literarischer Bannzauber.
Seit einigen Jahren steht Thomas Melle nun permanent unter dem Einfluss von Medikamenten. Zuerst Lithium, dann Valproinsäure. Sie verhindern starke Stimmungsausschläge in die eine oder andere Richtung, sie glätten und ebnen, was jahrelang ein Schlachtfeld war. Seit dem ersten Ausbruch der Krankheit 1999 hat Thomas Melle nahezu alles durchlebt, was in Verbindung mit Bipolarität möglich ist: Wahn, Selbstmordversuche, unzählige Psychiatrieaufenthalte, impulsive Reisen, exzessive Partys, den wirtschaftlichen Ruin. In den manischen Phasen ist Melle nicht nur ausnehmend aktiv und risikofreudig, er rutscht regelmäßig in psychotische Zustände, die sich mit denen eines Schizophrenen vergleichen lassen. Plötzlich verschiebt sich seine Wahrnehmung ins Überdrehte, alles scheint mit einem Mal doppelbödig, mehrdeutig und auf ihn bezogen. Ganz gleich, ob es die Popsongs im Radio und seiner umfangreichen Sammlung sind, die Werbebotschaften im Fernsehen oder die Menschen auf der Straße: alles scheint ihn direkt zu adressieren. Er entwickelt Phantasien, in denen er selbst eine messianische Gestalt ist, auf die die Menschheit bereits seit geraumer Zeit wartet, jeder scheint ihn zu kennen. Ein Maniker ist gehetzt, Melles Stil zur Beschreibung dieser Episoden ist es auch. Unweigerlich sieht man sich hineingezogen in einen surrenden Orkus aus Zeichen, Bedeutungen und Angst. Es gelingt, soweit etwas dieser Art überhaupt möglich ist, einen eigentlich unbeschreiblichen Zustand für Außenstehende durch Sprache erfahrbar zu machen.
Hier geht es nicht um Abstraktion und Literatur, um Effekt und Drastik. Hier geht es um eine Form von Wahrhaftigkeit, von Konkretion, jedenfalls um den Versuch einer solchen. Es geht um mein Leben, um meine Krankheit in Reinform. Da darf der ursprüngliche Aufbruch nicht fehlen. Nichts soll dabei verklausuliert, überhöht, verfremdet sein. Alles soll offen und sichtbar daliegen, so weit das eben möglich ist.
Auf die Manie folgt der Absturz in die Depression. Der durchgewalkte Hirnstoffwechsel beruhigt sich zwar – laut Melle zerstört jeder neuerliche Schub der Krankheit unwiderruflich Hirnzellen -, doch mit der Beruhigung folgt die Bewusstwerdung der eigenen Situation. Nicht an alles, was Melle in manischem Zustand tut und sagt, kann er sich erinnern, doch um zutiefst beschämt zu sein, genügt das Vorhandene. Er denkt an Selbstmord, verübt Versuche, wird von Freunden mehrfach – auch gegen seinen Willen – in die Psychiatrie eingewiesen. Im manischen Zustand fehlt ihm die Krankheitseinsicht, im depressiven Zustand erdrückt ihn seine Situation. Die Welt im Rücken ist ein schonungsloses Buch, ein radikales und ein schmerzhaftes. Vereinzelt montiert Melle alte Aufzeichnungen aus manischen Zeiten in den Text, um tiefere Einblicke in das völlig fragmentierte Denken zu geben, das dem Maniker in diesem Moment wie eine Offenbarung erscheint. Es handelt sich nicht im eigentlichen Sinne um einen Roman, vielmehr ist es ein literarisiertes Lebenszeugnis, das einerseits eine Ablösung von alten Mustern und Verarbeitungsprozessen einleitet, andererseits aber auch Fragen über das eigene Schicksal hinaus stellt. Wie werden psychisch Kranke im Film, in der Literatur, in der Kunst dargestellt? Inwiefern entspricht diese Zeichnung der Realität? Vielfach entweder als Genies glorifiziert oder als Gewaltverbrecher gebrandmarkt, liegt die Wirklichkeit mutmaßlich irgendwo zwischen den Extremen. Auch das kann Melles Buch leisten: einen realistischen, unverfälschten Blick gewähren auf eine Krankheit, die ihre positiven Aspekte haben mag, im Wesentlichen aber zerstörerischer ist als manche körperliche Erkrankung.
Alle Texte stehen in einem kerkerhaften Verweisungszusammenhang, der mir Sprache und Kehle zuschnürt. Ich muss einen verzweifelten Karneval mit den Buchstaben feiern und werde darüber ganz kryptisch, bleibe aber unerbittlich ich selbst, auch wenn sich draußen alles verschiebt.
Was bei manchem bloße Nabelschau wäre, spektakulär zwar, aber insgesamt unerheblich, gerät bei Melle zu einem literarischen Ereignis. Er weiß, wie er einen Satz zum Klingen bringen, ein Bild gestalten, eine Szene anlegen muss, um sie mit der ganzen ihr innewohnenden Wucht zu präsentieren – auch wenn diese Absicht nicht im Fokus stehen mag. Zwar blickt er auch in seine Kindheit, (v)erklärt sie jedoch nicht zum alleinigen Ursprung seiner Krankheit.
Thomas Melle: Die Welt im Rücken. Rowohlt Berlin. 352 Seiten.