Frauke Rostalski: Die vulnerable Gesellschaft

Unsere offene, demokratische Gesellschaft scheint dieser Tage aus unterschiedlichen Richtungen unter Druck zu geraten. Worin die größte Bedrohung liegt, variiert, je nachdem, wen man fragt. Frauke Rostalski ist Rechtswissenschaftlerin, Philosophin und seit 2020 Mitglied des Deutschen Ethikrats. Mit „Die vulnerable Gesellschaft“, das dieses Jahr für den Deutschen Sachbuchpreis nominiert ist, identifiziert sie eine Gefahr, die eher schleichend folgenreiche Veränderungen bewirkt. Der Begriff der Vulnerabilität, also der Verletzlichkeit, erlangte besonders im Zuge der Corona-Pandemie öffentliche Aufmerksamkeit, als es darum ging, besonders vulnerable Gruppen vor dem Virus zu schützen. In der Psychologie gibt es schon länger das sogenannte Vulnerabilitäts-Stress-Modell, mit dem die Entstehung psychischer Erkrankung erklärt werden soll. Menschen sind aufgrund genetischer Disposition und Sozialisation unterschiedlich vulnerabel, also auch unterschiedlich anfällig für bestimmte Erkrankungen. Ein Gegenbegriff, den auch Rostalski einführt, ist die Resilienz, also die Widerstandsfähigkeit gegen äußere Negativeinflüsse.

Im Mittelpunkt ihres Buches steht die Beobachtung einer gesteigerten gesellschaftlichen Vulnerabilität, die sie als Rechtswissenschaftlerin vor allem in Hinblick auf rechtliche Konsequenzen interessiert, die sich daraus ergeben. Wenn Individuen und Gesellschaften sich als zunehmend verletzlich erleben, geht damit häufig der Ruf nach gesetzlicher Reglementierung einher, so Rostalski. Wer sich (oder seine Community) als besonders vulnerabel wahrnimmt, wird sich wünschen, dass das Risiko, Opfer von Verletzungen zu werden, staatlicherseits möglichst minimiert wird – notfalls auch durch Gesetzesänderungen, die in die Freiheiten anderer eingreifen. Kommt der Staat diesen Forderungen nach, geht das mit einem Verlust von Eigenverantwortung und Selbstwirksamkeit einher. Was sonst im persönlichen Konflikt ausgehandelt worden wäre, wird staatlichen Strukturen überantwortet, was langfristig problematisch sein kann. Am Ende bedeutet die Überreglementierung gesellschaftlicher Konflikte auf der Basis zunehmender Vulnerabilitätszuschreibungen einen Freiheitsverlust für alle, sagt Rostalski. Mehrmals. Gerade zu Beginn des Buches so oft, als wollte sie die Bedrohungslage noch dem:der Letzten unmissverständlich deutlich machen – auch wenn sie fortwährend versichert, gegenwärtige Entwicklungen nicht werten zu wollen. Die Freiheit ist also nicht nur herausgefordert, sie ist für alle, auch die, die vermeintlich gewinnen, akut bedroht.

Was Rostalski ganz konkret meint, exemplifiziert sie dann schließlich im dritten Kapitel vor dem Hintergrund verschiedener Gesetzesänderungen, die infolge veränderter oder bewusst gewordener Vulnerabilität erfolgt sind. Es geht um dabei um eine neue Verletzlichkeit der Ehre, um die Verletzung des Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung, Suizidassistenz, Schwangerschaftsabbruch, Hate Speech. Wenngleich ich die These des Buches insgesamt bedenkenswert und diskussionswürdig finde, erschienen manche Beispiele mir nur bedingt überzeugend, wenn es um die konkrete Gefahr eines Freiheitsverlustes geht. Ein Beispiel bezieht sich auf den relativ neuen Paragraphen 192a StGB, der Beschimpfungen und Herabsetzungen aufgrund besonderer Merkmale des Opfers (wie etwa Religion oder Herkunft) ahndet, die sogenannte „verhetzende Beleidigung“. Erfasst wird von diesem Paragraphen z. B. antisemitische Hetze, die der Zentralrat der Juden per Mail zugeschickt bekam.

Die Jüdische Allgemeine schreibt selbst zur Gesetzesänderung:

Unter anderem erhielt der Zentralrat der Juden Hasszuschriften, die trotz ihres Inhalts offenbar nicht strafbar waren. Denn juristisch gesehen ist eine Volksverhetzung nur gegeben, wenn die Nachricht öffentlich verbreitet wird, zum Beispiel in Flugblättern, in sozialen Netzwerken oder in Redebeiträgen. Das trifft auf E-Mails oder Briefe nicht zu.

[…]

Für eine strafbare Beleidigung wiederum ist ein direkter Bezug zu der betroffenen Person erforderlich, sie muss also konkret angesprochen und beleidigt werden. Auch dies trifft bei manchen Hassnachrichten nicht zu, wenn beispielsweise in solchen E-Mails allgemein der NS-Terror verharmlost oder sogar glorifiziert wird.

Man kann das nun für eine Strafvorschrift halten, die „die Handschrift der Vulnerabilität“ (Rostalski, S. 57) trägt, oder für das Schließen einer Gesetzeslücke. Je mehr solcher Gesetze in Kraft sind, desto größer ist die Gefahr möglicher Silencing-Effekte, merkt Rostalski an (Silencing-Effekte, die natürlich genauso entstehen, wenn auf Bedrohungen und Herabsetzungen nicht ausreichend reagiert werden kann). Menschen halten aus Sorge vor den juristischen oder sozialen Konsequenzen ihre Meinung zurück, was sich verengend auf gesellschaftliche Diskursräume auswirkt. Im Fall der erwähnten Zuschriften wäre das nichts Bedauerliches, sondern vielmehr etwas Wünschenswertes. Anstatt aber das Risiko solcher Silencing-Effekte durch gesetzliche Regelungen einzugehen, könnte man, so Rostalski, Bürgerinnen und Bürgern ja auch mehr Resilienz zuschreiben. Ihnen zutrauen, dass sie nicht von jeder beleidigenden Äußerung in ihrer Ehre angegriffen werden.

Im Gegenteil könnte die Annahme vorherrschen, dass davon Betroffene einen Hate Storm als genau das einordnen, was er eigentlich ist: der Versuch, das gegenüber gewaltsam zum Schweigen zu bringen. Die Antwort hierauf müsste nicht Rückzug lauten, sondern Gegenwehr. Der Angegriffene könnte sich „im Auge des Shit Storms“ seines Rechts zur freien Meinungskundgabe erst recht bewusst werden und besonders auf dessen Ausübung drängen.

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass Betroffenen von Hate Speech von Strafverfolgungsbehörden bei Anzeige gern geraten wird, sich einfach weniger im Netz zu exponieren, um nicht zur Zielscheibe zu werden. Rostalski macht es sich, meines Erachtens, hier zu einfach, wenn sie die größere Sichtbarkeit und Präsenz als vermeintlich besseren Umgang hinstellt. Freilich ist das abhängig von der Art der Bedrohung; spätestens, wenn private Daten geleakt werden und eine ernsthafte Gefährdung besteht, genügt das vehemente Pochen auf die eigene Meinungsfreiheit mutmaßlich nicht mehr (im Gegenteil, auch die Gegenseite könnte es natürlich als Bestätigung ihres Tuns begreifen). Auch wenn es heißt „Dem Hass würde nicht Schweigen, sondern Widerrede entgegengesetzt“ bin ich mir nicht sicher, auf welcher empirischen Basis sie die engagierte Gegenrede in sozialen Medien als erfolgversprechend einschätzt. Es scheint, als wäre das die besonnenere Variante, die den Parteien Verhandlungsspielraum lässt. Das setzt aber voraus, dass es a) einen legitimen Verhandlungsgegenstand gibt und b) beide Parteien bereit zur Diskussion sind. Shitstorms werden selten von besonders diskussionsfreudigen Menschen initiiert. Dass das Internet lange als weitgehend rechtsfreier Raum begriffen wurde und sich das langsam ändert, mag im Sinne Rostalskis auch einem erhöhten Vulnerabilitätsbewusstsein zu verdanken sein. Das Beispiel überzeugt mich allerdings nicht dahingehend, dass ich das an dieser Stelle als problematisch wahrnehme.

Die Möglichkeit, rechtliche Schritte einzuleiten, ist ein Weg der Konfliktlösung, der (vorausgesetzt, es handelt sich nicht um anzeigepflichtige Delikte) nicht beschritten werden muss. Das gibt Rostalski einerseits auch selbst zu, gleichzeitig aber auch zu bedenken, dass durch den gesetzlichen Rahmen eines Gesetzes dennoch ein vorgezeichneter Weg entstünde und die Freiheit zur individuellen Einigung unweigerlich beschnitten würde. Diese Einschränkung könne langfristig zur zunehmenden Verkümmerung der Fähigkeiten führen, die man eben für Selbstbehauptung, Konfliktlösung oder Kompromiss so braucht. Die Gefahr ist hier also nicht nur der Verlust von Freiheit eienrseits, sondern auch die Beschädigung von Gesprächsfähigkeit (ohne staatliche Intervention) andererseits. Ich verstehe den Einwand, kann mir aber auch die Gegenwehr mit juristischen Mitteln als sehr legitime und manchmal einzige Form der Selbstbehauptung vorstellen.

Wenn es um die Änderungen im Sexualstrafrecht geht, stellt Rostalski richtigerweise fest, dass es sich z. B. bei der Gesetzesreform von 2016 („Nein heißt Nein“) um „eine erhebliche Ausweitung des Strafrechts handelt, die weit in den Bereich dessen hineinragt, was bis dahin als Privatangelegenheit verstanden wurde“ (Rostalski, S. 65). Das mag mancher als bedrohlichen Auswuchs der erwähnten Vulnerabilitätsvorstellungen verstehen, der Vorwurf der „Lustfeindlichkeit“ war im Zuge dieser Reform ja des Öfteren zu vernehmen. Rostalski vertritt diese Ansicht explizit nicht, führt aber ein weiteres Beispiel an, bei dem es um sehr private Entscheidungen geht: Schwangerschaftsabbrüche. Im Koalitionsvertrag wird angekündigt, der Ansprache von Frauen durch Abtreibungsgegner:innen auf der Straße (z. B. vor Abtreibungskliniken) „wirksame gesetzliche Maßnahmen entgegenzusetzen“. Auch das ist laut Rostalski ein Zeichen erhöhter Vulnerabilität, die im Falle eines Gesetzes zur Verengung von Diskursräumen führt. Aber eine offene, demokratische und pluralistische Gesellschaft, wird das Verwaltungsgericht München aus dem Jahr 2016 zitiert, vertrage keine „diskursfreien Zonen“. Weshalb der gesellschaftliche Diskurs über Schwangerschaftsabbrüche dann aber in sehr individuellen, privaten Situationen geführt werden soll, auf offener Straße, gerichtet an einzelne Frauen, wenn sie sich bereits zum Abbruch entschlossen haben, weiß ich nicht.

Einer vulnerablen Gesellschaft ist es nicht genug, Abtreibungsgegner lediglich für Straftaten zu ahnden, die bereits nach der geltenden Rechtsordnung als solche erfasst sind. Geschützt werden soll die Schwangere auch vor Gesprächsangeboten und Kritik. Dem liegt freilich eine besonders einseitig auf die Vulnerabilität der Schwangeren fokussierende Wertung zugrunde.

An mehreren Stellen halte ich Rostalskis Argumentation für nicht ganz ausdifferenziert, etwa wenn sie zur Masernimpfpflicht in Kitas schreibt, die Masern seien „ein Risiko, das die Gesellschaft seit vielen Jahrzehnten kennt und das in seiner Höhe durchaus überschaubar ist“, ohne mit einem Wort darauf hinzuweisen, dass die Masernerkrankungen aufgrund zunehmender Impfverweigerung immer weiter ansteigen. Freilich versichert der Text immer wieder, nicht inhaltlich Stellung beziehen, sondern das Wie der Debatten analysieren zu wollen. So sauber, wie behauptet wird, lässt sich das aber nicht immer voneinander trennen. Der vulnerablen Gesellschaft ist, laut Rostalski, eine Steigerungslogik inhärent. Ist ein Problem aus der Welt geschafft, wird sich also ein nächstes ergeben. Je feiner die Antennen für Verletzlichkeit, desto mehr potenzielle Gefahrenquellen wird man entdecken und eliminieren wollen. Das Ergebnis ist eine Reglementierungswut, die totalitaristische Züge annehmen kann. Wo soll das noch enden? Eine implizite Frage, die in manchen Kreisen große Zustimmung finden dürfte.

Bei manchen Zitaten hätte ich mir die eine oder andere Fußnote mehr gewünscht. Etwa wenn aus Adrian Daubs „Cancel Culture Transfer“ zitiert und gesagt wird: „Grenzlinien verlaufen bei Daub insoweit zwischen ‚der Linken‘ und einem ‚rechten‘ Spektrum, zu dem er insbesondere auch ‚Liberale‘ zählt.“ Was in diesem Zitat so klingt, als halte Daub Liberale in besonderem Maße für zum rechten Spektrum gehörig, wird in seinem Buch schon als „bestimmte Spielart des Liberalismus“ (Daub, S.322) bezeichnet. Es geht um den Ulf-Poschardt-Liberalismus, der „seine Selbstsicherheit, seine Autonomie und seinen Mut so penetrant vor sich herträgt, dass man nicht sicher ist, wie viel Überzeugung wirklich dahintersteckt“ (Daub, S. 323–324). Es geht um die, die demonstrativ lange duschen wollen, wenn es nur den Richtigen missfällt. Diese Einschränkung hätte man schon machen können, zumal Rostalskis Zitate nicht mit Seitenangaben versehen sind.

In diesem Zusammenhang thematisiert Rostalski auch die Diskussionskultur an deutschen Universitäten. Selbst wenn noch keine amerikanischen Verhältnisse herrschen, werden auch hier Risiken ausfindig gemacht, die mir zum Teil noch einleuchten (etwa wenn bestimmte Veranstaltungen gestört oder Redner:innen aufgrund unliebsamer Standpunkte diskreditiert werden). Erwähnt wird allerdings auch eine Studie, in der Studierende gefragt wurden, ob Bücher mit kontroversen Haltungen aus der Universitätsbibliothek entfernt werden sollten. Etwa ein Drittel sprach sich dafür aus. Die Studie gab vier Kategorien „kontroverser“ Haltungen vor:

Die Annahme, der Islam sei unvereinbar mit dem westlichen Lebensstil (1); dass es biologische Unterschiede in den Fähigkeiten von Männern und Frauen gibt (2); eine Opposition gegen jede Art von Immigration (3) sowie die Auffassung, Homosexualität sei unmoralisch und gefährlich.

Einige dieser Standpunkte sind mit „kontrovers“ noch sehr wohlwollend beschrieben. Nun steht es natürlich jedem und jeder frei, etwa homophobe Texte zu lesen. Ob sie in einer Universitätsbibliothek stehen sollten, um als Teil des pluralistischen Meinungsspektrums abgebildet zu sein, würde ich persönlich nicht zustimmend beantworten. Das kann man mit der zunehmenden Verletzlichkeit junger Menschen begründen, die der Zumutung des demokratischen Diskurses nicht mehr ausreichend gewachsen zu sein scheinen. Aber eben auch anders.

Letztlich plädiert „Die vulnerable Gesellschaft“ für das offene Gespräch, für weniger Lagerdenken, weniger polarisierte Debatten, für die gesellschaftliche Aushandlung von Freiheiten und Beschränkungen. Letztlich für Wachsamkeit gegenüber kleinen, für sich genommen vielleicht gerechtfertigten gesetzlichen Veränderungen, deren kumulativer Eeffekt auf die Demokratie schlussendlich ein negativer wäre. Dass Debatten zunehmend entgleisen und es häufig weniger um common ground und Sachargumente geht als um Geländegewinn für die eigene Gruppe, ist wohl ein Befund, den viele Menschen teilen – Rostalski führt zur Beschreibung den Begriff der Diskursvulnerabilität ein, der erläutern soll, welche Konflikte aufgrund von Verletzlichkeiten in Debatten entstehen und auf welche Weise sie Gespräche zunehmend verunmöglichen. Etwa wenn eigene (emotionale) Betroffenheit für eine Überidentifikation mit einem Standpunkt sorgt, sodass inhaltliche Gegenrede automatisch als Angriff auf die Person wahrgenommen und entsprechend emotional beantwortet wird.

Alles in allem ein lesenswertes Buch, aber auch eines, das mich an manchen Stellen (von denen ich nur einige hier exemplarisch aufgeführt habe) verloren hat.

(Beitragsbild: https://unsplash.com/de/@matthewhenry)

Frauke Rostalski: Die vulnerable Gesellschaft. C. H. Beck. 189 Seiten. 16,00 €.

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