Gerade ist Mischa Mangel mit seinem Debütroman für den Franz-Tumler-Literaturpreis nominiert worden. Tatsächlich ist Ein Spalt Luft ein ganz besonderer Text, formal wagemutig und unbequem verfolgt er die beklemmende Suche eines namenlosen Protagonisten nach dem blinden Fleck seiner Biographie. Wie das Leben verläuft auch diese Suche nicht linear, sondern erratisch von einem zum anderen flackernd, von einer Erinnerung zur nächsten Erinnerungslücke. Wie soll man sich ein Leben erschließen, dessen Anfänge in seine Fragmente zerfallen und vom Wahn überformt sind?
Die Mutter des Protagonisten erkrankt nach dessen Geburt an einer Psychose. Er verbringt seine früheste Kindheit, beinahe zwei Jahre, weitgehend in der häuslichen Isolation mit seiner Mutter und ihren Wahnideen. Obwohl der Roman immer wieder um jene Zeit kreist und seinen Sog um dieses schwarze Loch herum entfaltet, bleibt die Suche nach diesen ersten Lebensjahren fragmentarisch. Das Leben hat keinen roten Faden, Erinnerung ist kein Fotoalbum, insbesondere, wenn die Erinnerungen eine starke Belastung wären. Gerade daraus ergibt sich aber auch ein gewisses Spannungsverhältnis und der Wunsch, sich einen Reim auf die eigene Biographie machen zu können.
Ich sitze am Schreibtisch, vor mir die gerichtspsychologischen Gutachten, die vor etwa fünfzehn, sechzehn Jahren über meine Mutter und mich angefertigt worden sind, die Sprache ist nüchtern und klar, einige mir unbekannte Fachbegriffe, die das Verständnis aber nicht allzu sehr erschweren; ich verstehe nahezu jedes Wort und verstehe doch kein einziges: Das Geschriebene dringt nicht zu mir durch, ich schiebe es weg, es ist zu groß, ich kann nichts damit anfangen.
Eben weil Erinnerung fragmentarisch und auch das Wesen der Psychose ein zerfallendes Denken ist, scheint es nur folgerichtig, dass Ein Spalt Luft ohne erkennbar roten Faden erzählt ist. Der Roman ist aus ganz verschiedenen Textformen collagiert, die jeweils unterschiedliche Gesichtspunkte des Geschehens widergeben. Da sind einerseits die gegenwärtige Suche des Protagonisten im Erwachsenenalter sowie Erzählungen und Erinnerungen des Vaters, andererseits aber auch Auszüge aus den Akten des Jugendamts (mit geschwärzten Namen) und Sachtexte zum Thema Schizophrenie und Medikation.
Der Text entwickelt auch durch sich wiederholende Textpassagen eine besondere Melodie. Manche Sätze kehren immer wieder, wirken wie sich aufdrängende Gedanken, die nicht zu Ende gedacht werden können oder sich im Laufe des Romans etwa als Wahnidee der Mutter entpuppen. In Versalien gesetzte Passagen voller Beleidigungen, Nachrichten der Mutter auf dem Anrufbeantworter, wechseln sich ab mit konventionellem Erzähltext. Das Auseinanderfallen – stilistisch, sprachlich und inhaltlich – ist ein wesentliches Motiv des Romans. Wie erzähle ich von einem Denken, das zwar inhärent logisch, von außen aber nicht mehr nachvollziehbar ist?
Nur meine Mutter weiß, was in den circa einundzwanzig Monaten geschehen ist, als wir beide allein waren.
Mischa Mangel gelingt es hervorragend, eine Sprache und eine Form für den psychotischen Zustand der Mutter einerseits, aber auch für das Suchen und Sondieren des Protagonisten andererseits zu finden. Der Roman stellt implizit auch die Frage, wie uns unsere Biographie prägt und welche Haltung wir dazu einnehmen können, insbesondere, wenn die Prägung nicht greifbar ist, wenn wir das, was vielleicht sogar dokumentiert ist, nicht zu uns in Beziehung setzen können. Weil es zu lange her ist, weil es traumatisch war, weil wir die Teile nicht zu einem Ganzen zusammenfügen können. Ein Spalt Luft ist ambitioniert, kein einfaches Buch, emotional nicht und formal nicht, aber die Wanderung durch seine Untiefen lohnt sich allemal!
Mischa Mangel: Ein Spalt Luft. Suhrkamp Verlag. 270 Seiten. 22 Euro.