Sulevia, genannt Silvie, verbringt ihre Sommerferien gemeinsam mit ihren Eltern und einer Gruppe Archäologiestudent*innen im Moorwald von Northumberland. Die Vorgabe: so zu leben wie in der Eisenzeit. Der Professor der Student*innen erhofft sich durch das empirische Nacherleben Erkenntnisse zum Alltag der Menschen und so verpflichtet er die Gruppe, Nahrung im Wald zu sammeln oder Körbe zu flechten. Silvie ist dieses Leben nicht fremd. Ihr Vater brennt für Ärchäologie und Frühgeschichte, seit frühester Kindheit hat er ihr beigebracht, wo essbare Pflanzen wachsen und wie man sie erkennt. Aber nicht nur das: Silvies Vater ist herrisch und gewalttätig. Schnell reißt er im Lager das Kommando an sich und reglementiert genau, wer was zu tun oder zu lassen hat. Es ist undenkbar, zwischendurch aus dem Spiel auszuscheren und zum Supermarkt zu gehen oder bei einer der Dorfbewohnerinnen zu duschen. Und aus einem Spiel wird schnell bitterer Ernst.
Obwohl Sarah Moss bereits zu Beginn das Ende ausbuchstabiert, kann man sich anfangs kaum vorstellen, wie die Ausgangssituation später derart entgleisen kann. Silvies Mutter scheint jeden Widerstand gegen die Wutausbrüche ihres Ehemanns schon am Anfang aufgegeben zu haben, die verbale und physische Gewalt wird von ihr als etwas begriffen, das man mit Gehorsam abwenden kann. Gehorsam zu sein, bedeutet in ihrem Fall vor allem, nirgendwo Widerworte zu geben und sich in die ihr vorgegebene Rolle zu fügen. Sie steht pausenlos am Kochtopf, bereitet das Essen und schürt das Feuer. Sie wirkt teilnahmslos und resigniert. Es ist nicht das erste Mal, dass ihr Mann die Familie zu Rollenspielen wie diesen nötigt; freilich unter dem Vorwand, die Beteiligten Demut und Genügsamkeit zu lehren. Silvie hingegen ist rebellischer und schlagfertiger, sie hat ihrem Vater noch etwas entgegenzusetzen und wird von ihrer Mutter des Öfteren gebeten, ihn einfach nicht aufzuregen.
Die Studenten waren noch nicht zurück, obwohl der Sonnenuntergang nun in jedem Fall vorbei war. Dad und der Prof redeten übers Kämpfen, wie Männer es so tun, wenn sie eigentlich ums Reden kämpfen.
Was Silvies Vater aufregt, ist vielfältig: zu langsames Arbeiten, aus der Rolle fallen, Widerworte geben, Schwäche oder auch der Körper seiner Tochter. Als sie sich in einem kleinen See im angrenzenden Wald bis auf die Unterhose auszieht, um sich abzukühlen, entdeckt und bestraft er sie. In der Annahme, sie habe mit den Studenten im Lager flirten wollen, versucht er, die Kontrolle zurückzuerlangen. Stärke definiert sich für ihn nicht nur über eine archaische, ursprüngliche Lebensart, sondern auch über die Kontrolle weiblicher Körper, sei es der Körper seiner Tochter oder der Körper seiner Frau. Seine Vorstellungen englischer Frühgeschichte stecken voller Klischees, Mythen und Glorifizierungen, in die er sich versenkt. Wie viele rechtsextremistische Gruppierungen heute pflegt er ein eher flexibles Verhältnis zu historischen Fakten. Viel wichtiger ist, dass sie seine Vorstellung einer strahlenden, heldenhaften Vergangenheit unbeschädigt lassen.
Eigentlich, sagte Molly, ist Pinkeln für Mädchen nicht schwieriger als für Jungs, das Problem ist nicht die Biologie, sondern dass Männer Angst vor Frauenkörpern haben.
Geisterwand erzeugt, nicht zuletzt dank seiner klugen Protagonistin, schnell einen Sog. Wir wissen, was passieren wird, aber wir wissen nicht, wie es dazu kommen konnte. Über allem liegt die angedeutete Bedrohung des Anfangs. Schließlich entscheiden die Männer sich, im Rahmen eines Rituals einen Wall zu bauen, auf dem die Schädel getöteter Tiere Gefahren von außen abwehren sollen: eine sogenannte Geisterwand. Und Silvie soll eine wichtige Rolle dabei spielen. Sarah Moss zeigt das rasche Zerfallen einer Gemeinschaft oder besser: ihr Zusammenschmelzen zu einer vermeintlich homogenen Gruppe, die das Wohlergehen anderer für ihre eigene Fantasie opfert. Es liegt nicht fern, darin auch einen Kommentar zu zeitgenössischen politischen Entwicklungen zu vermuten. Die Heroisierung des Männlichen und Archaischen, eines homogenen und unbefleckten Ursprungs, die Rückkehr zur Natur und die Abwehr äußerer Feinde sind zentrale Topoi rechtsextremer Bewegungen, von der Anastasia-Bewegung bis zu den Identitären. Geisterwand führt im Kleinen die Verheerungen vor, die solche Ideologien anrichten, wenn man sie gewähren lässt.
Ein irres Spiel, eine Mauer zu bauen, hinter der gar nichts war, Tiergeister zu beschwören in einer Sommernacht.
Ein schmales Buch, das mit großer Wucht daherkommt und, das soll nicht unerwähnt bleiben, von Nicole Seifert ganz großarrtig übersetzt wurde.
Sarah Moss: Geisterwand. Aus dem Englischen von Nicole Seifert. Berlin Verlag. 160 Seiten. 20,00 €.