Tilman Weber ist sensibler als seine Altersgenossen und wird nicht selten von ihnen dafür verspottet. Nachdem seine Mutter sich das Leben genommen hat, wächst er allein bei seinem Vater auf. Der kümmert sich zwar bestens um Tilmans Bildung, dafür weniger um dessen Ängste und Nöte. Als eine neue Frau mit reformpädagogischen Neigungen in sein Leben tritt, reift der Entschluss, den dreizehnjährigen Tilman in der „Freien Schule Schwanhagen“ unterzubringen – einer „Art Terrorzelle“ aus der Sicht konservativer Lehrkräfte.
Alles ist anders an der FSS nahe der Ostsee. Die Kinder und die Lehrkräfte sollen keine Opponenten sein, sondern auf Augenhöhe Erfahrungen austauschen. An einem Ort, wo das klassische Machtgefälle zwischen Schülern und Lehrern aufgelöst werden soll, etabliert es sich hinter der Fassade reformerischen Glanzes auf viel perfidere Weise neu. Die fiktive “Freie Schule Schwanhagen”, von Anselm Neft nach dem Vorbild der Odenwaldschule konzipiert, besteht aus verschiedenen Häusern, denen jeweils eine Lehrkraft vorsteht und dessen Bewohnern sie in besonderer Weise Förderung ermöglicht. Der Unterricht wird frei gestaltet, die Schüler sollen sich ausprobieren. Jeder so wie er kann und mag, keine festen Strukturen, dafür frei flottierende Möglichkeiten, sich selbst zu entdecken. Für Tilman ist diese neue Art des Lernens und Zusammenlebens aufregend, insbesondere als ihm die Möglichkeit geboten wird, durch eine Mutprobe in das Haus der Wielands aufgenommen zu werden. Valerie und Salvador Wieland ähneln in nichts den Lehrern und Lehrerinnen, die Tilman kennt. Die beiden umgibt eine Aura des Besonderen, des Höheren – ebenso wie die Schüler des Wielandhauses. Wer von ihnen gesehen und in ihre Runde aufgenommen wird, ist erwählt, Teil von etwas Größerem zu sein.
Dann hörte ich Salvador Wieland sagen: “Hier sollt ihr alles tun, was ihr wollt. Was ihr wirklich wollt. Das heißt nicht, dass an der FSS keine Regeln gelten. Aber wenn euer Wille stärker ist als die Angst vor den Konsequenzen – brecht die Regeln. Findet heraus, wer ihr seid. Für das Leben lernen wir.” Während dieser Worte wanderte sein Blick über die Zuhörer und ruhte plötzlich auf mir. Ich spürte es: Er meinte mich. Er erkannte mich.
Anselm Neft: Die bessere Geschichte
Mit einem präzisen Blick für die subtilen Strukturen des Machtmissbrauchs zeichnet Anselm Neft Tilmans Weg in diese hermetisch nach außen abgeschlossene Gruppe. Immer wieder wird nach Bekanntwerden von Missbrauchsfällen in Institutionen die Frage aufgeworfen: Wie konnte das passieren? Warum hat niemand gesprochen? Mögen die Mechanismen sich auch individuell in Details unterscheiden, so lassen sich Gemeinsamkeiten ausmachen, die Missbrauch – ob institutionell oder familiär – ermöglichen. Die bessere Geschichte entwirft das Wielandhaus zunächst als Hort der Freiheit und Schrankenlosigkeit. Die Wielands schenken an die Jugendlichen Alkohol aus, fördern ihre persönlichen Talente und begegnen ihnen mit einer Ernsthaftigkeit, die sie als Ebenbürtige kennzeichnet. Diese Art der Grenzverwischung ebnet schließlich den Weg zu einer viel dramatischeren Grenzüberschreitung. Im Wielandhaus sind die “Problemjugendlichen” untergebracht – solche mit schlechten oder gar keinen Kontakten zu ihren Eltern, solche, die schwere Verluste ertragen oder bereits Gewalt erleben mussten. Die erste Form des Missbrauchs beginnt bei der gezielten Auswahl derer, die sich am leichtesten für den gewünschten Zweck instrumentalisieren lassen.
Was im Wielandhaus geschieht, bleibt im Wielandhaus. Die geschlossene Gemeinschaft erzeugt eine Gruppendynamik, in der das Gespräch einem Verrat gleichkäme. Auch untereinander reden die Schüler nicht über die Annäherungen und Übergriffe der Wielands. Sie gehören dazu, sie dienen einem vermeintlich höheren Zweck und werden damit auf perfide Art zu einem Initiationsritual umgedeutet. Tilman weiß lange nicht, dass ihm Gewalt geschieht. Viel mehr sieht er durch das, was geschieht – mag es ihm auch unangenehm sein – seine Stellung und Wichtigkeit innerhalb der Gruppe bestätigt. Dieser gezielt gesteuerte Manipulationsprozess ist in sämtlichen Fällen (sexuellen) Missbrauchs verheerend: Wer nicht erkennt, dass ihm Gewalt angetan wird, der wird sich nicht oder nur in unzureichendem Maße zur Wehr setzen. Die bessere Geschichte macht die inneren Verdrehungen so schmerzlich spürbar, dass man erahnt, wie die Antwort auf die niemals verstummende Frage “Und warum redet ihr erst jetzt?” lauten könnte.
Kurz nach dieser Übernachtung und lange bevor ich in die Familie der Wielands aufgenommen wurde, zeigte sich meine Fähigkeit, mir selbst gegenüber so unberührbar zu sein, dass ich mich wie betäubt fühlte, ein Zustand, der mir ungeheure Möglichkeiten eröffnete.
Anselm Neft: Die bessere Geschichte
Anselm Neft teilt seinen Roman zeitlich in zwei Teile: die Zeit an der FSS und die Zeit danach, in der sich die Frage stellt, ob die Verantwortlichen von den “Wielandkindern” zur Rechenschaft gezogen werden sollten – und wie. Tilman Weber ist unterdessen ein erfolgreicher Autor geworden, dem das, was damals geschehen ist, nicht besonders nahe gegangen zu sein scheint. Erst Stück für Stück legt der Roman Bereiche bloß, in denen das Trauma wirksam ist und er schreckt dabei nicht vor beunruhigenden, tabuisierten Fantasien zurück. Die bessere Geschichte ist ein aufwühlendes, hervorragend erzähltes und beklemmendes Buch. Es lebt von den eindrücklich geschilderten Beziehungen und Gefühlen ebenso wie von dem, was es nur vage andeutet. Es handelt von Manipulation, Ausbeutung, Gewalt und Selbstbetrug. Es handelt von Dingen, die täglich passieren.
Anselm Neft: Die bessere Geschichte. Rowohlt Verlag. 480 Seiten. 22,00 €.